Oder: Einfach mal die Klappe halten.
Wir sprechen aus sehr unterschiedlichen Gründen, längst nicht immer nur dann, wenn wir etwas mitzuteilen haben. Manche Menschen reden aus Nervosität, weil sie sich unbehaglich fühlen, weil sie es nicht gern mögen, wenn es ruhig ist. Bei den Menschen, die nicht viel reden, nehme ich verschiedene Schwingungen wahr: Manche sind einfach ruhig und zurückhaltend, hören gern zu und beteiligen sich ganz bewusst und nur aus sehr guten Gründen aktiv am Gespräch. Bei manchen spüre ich aber auch den Drang, etwas zu sagen, und gleichzeitig etwas, das sie zurückhält. Unsicherheit? Als wäre der Klang der eigenen Stimme erschreckend, und dann ist man ja auch den Reaktionen der anderen ausgeliefert. Wenn ich nur still dasitze und nicke oder lächle, dann bin ich irgendwie mit dabei, liefere mich aber nicht den Urteilen der anderen aus. Sobald ich etwas sage, werde ich angehört, vielleicht beurteilt, mache mich vielleicht angreifbar.
Verlassen wir den Kontext des ganz normalen Gesprächs in sozialen Situationen, so wird es erst richtig lustig. Mein Lieblingsbeispiel sind Sitzungen. Da spielt auf einmal Status eine Rolle, wer welchen Hut auf hat, was der formale Rahmen ist etc. Plötzlich ist nicht nur wichtig, was gesagt wird, sondern auch, wer es sagt. Darüber habe ich mich schon oft geärgert, und zwar unabhängig davon, ob ich diejenige war, die überhört wurde (und kurz danach wurde jemand für den gleichen inhaltlichen Beitrag gefeiert) oder ob vor mir jemand überhört wurde und das gleiche Argument dann bei mir auf einmal Relevanz bekam. Ähnlich irritiert bin ich, wenn es Codes gibt, die ich nicht kenne, und dann mein Redebeitrag völlig anders verstanden wird, als ich ihn gemeint habe. Oder wenn ich drei Mal sage „Vorsicht, ich halte jetzt eine Sarkasmuskarte hoch!“ und trotzdem der Sarkasmus nicht verstanden wird. Ich habe schon darüber nachgedacht, Sarkasmus aus meinem Stilrepertoire für Sitzungen zu streichen und den Ironiedetektor grundsätzlich auszuschalten, weil der sowieso irgendwann überfordert aufgibt. Manchmal sind die ungeschriebenen Regeln in Sitzungen kompliziert, und dann wird alles schwieriger: Was man sagt, wie man es sagt, wann, vor wem und nach wem, wessen Standpunkt man unterstützt und wem man widerspricht. Und auch Schweigen ist dann plötzlich eine richtig schwierige Übung.
Dabei ist das so schön: Man geht in eine Sitzung, hört zu, macht sich Notizen und sagt: nichts. Es gibt Uneinigkeit und persönlich ist mir egal, wie die Sache ausgeht und worauf wir uns einigen, also sage ich: nichts. Oder nach fünf Minuten ist klar, dass sich alle einig sind, und trotzdem wollen ganz viele Leute noch ihren Senf dazugeben. Die Entscheidung ist schon klar, man könnte jetzt auch einfach aufhören zu reden und die Sitzung (oder den Tagesordnungspunkt) beenden. Also sage ich: nichts. Ich übe, einfach mal die Klappe zu halten.
Umso interessanter sind die Situationen, in denen es wirklich wichtig ist, nicht die Klappe zu halten. Diese erscheinen mir umso klarer, je mehr ich ansonsten übe, nichts zu sagen. Manchmal wird ein Argument nicht gehört und ich denke „Wird es vielleicht gehört, wenn ich es auch noch einmal anspreche? In anderen Worten?“ Wenn ich es wichtig finde, dann ist das der Moment, die Stimme zu erheben. Entweder ist das dann der entscheidende Beitrag, oder das Argument wird wirklich nicht gehört, und dann habe ich es wenigstens versucht. Wenn ich Fragen habe, dann warte ich auch häufig ab, und oft haben dann andere ähnliche Fragen. Oder meine Fragen werden im Lauf der Zeit automatisch beantwortet. Und wenn nicht, dann kann ich immer noch überlegen, wie wichtig die jetzt gerade sind. Es gibt halt auch Sachen, die sonst vergessen werden! Manchmal sitze ich da und denke: Wenn ich das jetzt nicht sage oder frage, dann tut es niemand, und dann wird etwas Wichtiges übersehen oder vergessen. Insofern funktioniert die Standardeinstellung „Klappe halten“ vielleicht am besten, wenn im Zweifel folgende Fragen innerlich gestellt werden: Muss das gesagt werden? Von mir? Jetzt? Ist das so ein Fall von „Wenn ich das jetzt nicht sage/frage, tut es niemand.“?
Wie entscheiden Sie, wann es Zeit ist, die Klappe zu halten, und wann es Zeit ist, die Stimme zu erheben?