Das ist eine große Frage, wenn ich mit „uns“ die ganze Gesellschaft meine. Und diese Frage ist sehr interessant! Im kommenden Wintersemester werde ich eine Grundvorlesung halten, „Lineare Algebra“, so dass ich zumindest einen kleinen Einblick bekommen kann, wie es jungen Leuten geht, die gerade Abitur gemacht haben (jedenfalls viele von ihnen) und die ein Studium beginnen. Es werden auch Studis dabei sein, die schon länger an der Uni sind, oder Personen, die vorher eine Ausbildung gemacht haben. Insofern ist es eine bunt gemischte Gruppe. Mir ist wichtig, wie es denen geht, wenn sie im Hörsaal sitzen und wir uns gemeinsam mit Mathematik beschäftigen. Ihre Tagesform, ihre Erwartungen, ihre Erfahrungen aus der Schule und ihre Erlebnisse im sozialen Miteinander werden großen Einfluss darauf haben, wie sie sich in der Vorlesung fühlen und wie gut sie mit mir und dem Stoff zurechtkommen. Einerseits ist also wichtig, wie es den Studis geht – jedenfalls für mich -, und andererseits kann ich nicht auf alle individuellen Befindlichkeiten eingehen. Was mache ich damit?
Aktuell habe ich dazu zwei Ideen. Eine betrifft mich selbst, denn wie es mir geht, beeinflusst den Hörsaal auch. Wenn ich mit einem guten Energielevel reinkomme, präsent und offen, dann kann ich die Stimmung bei den Studis zwischendurch erspüren und kriege hoffentlich mit, wenn es irgendwo zu schnell geht oder Fragen aufkommen an Stellen, an denen ich nicht damit rechne. Je besser es mir geht, desto aufnahmefähiger kann ich für die Bedürfnisse der Studis sein und desto glaubwürdiger ist es, wenn ich Interaktion einlade. Je besser es mir geht, desto besser kann ich in der Vorlesung improvisieren, Umwege laufen, mit den Studis gemeinsam auf Entdeckungstour gehen. Mein persönliches aktuelles Forschungsprojekt heißt daher „Wie geht es mir eigentlich und warum?“. Bis zum Beginn des Wintersemesters liegen bestimmt erste Ergebniss vor. 🙂
Die zweite Idee ist, die Studis selbst dafür zu sensibilisieren, dass ihre Stimmung sich darauf auswirkt, wie es im Hörsaal läuft. Wenn ich als Studentin während der Vorlesung nicht mitkomme, ständig abgelenkt bin oder von Anfang an nicht motiviert bin, dann muss das nicht zwangsläufig mit dem Stoff zu tun haben. Es heißt nicht automatisch, dass die Vorlesung zu schwierig ist oder dass ich unfähig bin. Vielleicht bin ich müde, hab schlecht geschlafen oder bin gerade irgendwo emotional stark belastet und deshalb nicht so konzentrationsfähig wie sonst. Wenn ich das vorher bemerke, kann ich während der Vorlesung etwas freundlicher zu mir selbst sein oder sogar vorher schon entscheiden, dass ich heute nicht zur Vorlesung gehe, sondern mir stattdessen hinterher das Video anschaue und mir Fragen notiere. Vielleicht ist es sogar jede Woche so, dass einer der Vorlesungstermine nicht gut passt und ich da nie voll aufnahmefähig bin. Wenn ich das merke, dann kann ich mir eine gute Strategie überlegen, damit umzugehen, und ich muss nicht jede Woche komplett frustriert in der Vorlesung sitzen.
Natürlich betrifft das nicht nur Erstis und es betrifft mich in allen Lehrveranstaltungen, nicht nur in den großen oder denen am Anfang des Studiums. Mein Eindruck ist aber, dass es in den frühen und großen Vorlesungen eher eine Rolle spielt, weil wir da so viele Menschen sind und wir uns vielleicht noch nicht so gut kennen. „Menschen“ ist das Stichwort – im Hörsaal und im Seminarraum sitzen nicht nur Köpfe, da kommunizieren nicht unsere Gehirne miteinander. Wir sitzen da als Menschen herum und bringen daher unsere Körper mit, ggf. mit Schmerzen oder Müdigkeit, wir bringen unsere Stimmung mit, ein Energielevel, soziale Kompetenz, ein mehr oder weniger ausgeprägtes Kommunikationsbedürfnis. Manchen geht es gut, manchen nicht so gut, wir reden viel oder wenig und reden oft aneinander vorbei. Mir hilft es, mir das vor jeder Lehrveranstaltung noch einmal ins Gedächtnis zu rufen, gerade in einem Fach wie Mathematik! Klar geht es um Logik und abstrakte Strukturen und Argumente, aber als Menschen bringen wir ganz viel Irrationalität und Subjektivität mit in den Raum und wir werden nicht plötzlich zu mathematisch denkenden Maschinen. Daher möchte ich mich lieber einmal öfter fragen: „Wie geht es mir heute? Wie begegne ich den Studis? Wie geht es denen?“