Ich mag Erstis.
Nicht jedes Jahr, aber so alle zwei, drei Jahre ist es ganz toll, eine Ersti-Vorlesung zu halten. Jedes Mal ist es anders, deswegen bin ich auch jedes Mal nervös, wenn ich in der ersten Vorlesungswoche in den großen Hörsaal komme und dort die angespannten Gesichter sehe. Mit Glück ist es freudige Anspannung, so wie bei mir, aber ich schaue auch manchmal in besorgte Gesichter. Ich weiß nicht, mit welchen Erwartungen die Studis da sitzen, was sie schon über das Mathe-Studium wissen und ob es überhaupt ihr erstes Studienjahr ist. Manche brauchen mehrere Anläufe, bis sie die Grundvorlesungen erfolgreich abschließen, und dann sitzen sie dort vielleicht schon mit Frust, mit wenig Motivation oder mit großen Zweifeln, was die eigenenen Fähigkeiten betrifft. Es gibt auch Studis, die nach mehreren Versuchen verstanden haben, wo es klemmt, und die dann mit einer „Jetzt aber wirklich!“-Haltung in der Vorlesung sitzen.
In jedem Fall sind Ersti-Vorlesungen auf mehrfache Weise einzigartig. Da sitzt eine große, sehr heterogene Gruppe von Menschen im Hörsaal. Da ist sehr viel Neugier und Offenheit, ganz viel Staunen. Im besten Fall gelingt es mir, das zu halten und die Studis immer wieder zu ermutigen, neugierig zu bleiben und ganz viele Fragen zu stellen. Denn auch wenn manche Themen Dauerbrenner sind und manche Missverständnisse immer wieder auftreten: Es ist jedes Mal eine neue Erfahrung für mich und ein großes Wunder, wo und wie die Groschen fallen und wo es Schwierigkeiten gibt. Jedes Mal lerne ich durch die Rückfragen der Studis so viel dazu, und jedes Mal machen die Fehler und die Missverständnisse deutlich, wie die Studis ihren eigenen Weg in den Stoff hinein denken und wo sie stolpern. Ist überhaupt sinnvoll, zu versuchen, möglichst viele dieser Stolpersteine aus dem Weg zu räumen? Klar freue ich mich, wenn viele richtige Antworten kommen und kluge, weiterführende Fragen. Aber vielleicht lerne ich als Dozentin mehr, wenn ich die Denkfehler sehe, die Fehlversuche, die im Brustton der Überzeugung vorgetragenen falschen Antworten. Und wenn meine Fragenraupe Jean-Luc dieses Jahr fast gar keine Fragen bekommt (ganz anders als sonst), dann überlege ich zuerst, ob ich etwas falsch gemacht habe und ob ich die Studis nicht genug ermutigt habe, Fragen zu stellen und Wünsche zu äußern. Erst der zweite Gedanke ist, dass es ja auch sein kann, dass sie sich miteinander im Hörsaal so wohl fühlen und so sicher, dass sie einfach alle Fragen dort loswerden und die Möglichkeit für anonyme Fragen gar nicht so sehr brauchen.
Und ehrlich gesagt finde ich den Gedanken sehr schön, dass ein Hörsaal ein Ort sein kann, an dem viele Menschen gemeinsam lernen, sich gegenseitig zuhören, gemeinsam Fehler machen und Fragen stellen, ohne die Sorge zu haben, dass jemand lacht.
Wo und in welchen Situationen halten Sie sich mit Fragen oder mit kritischen Bemerkungen zurück?
Was könnten Sie dazu beitragen, dass Sie und andere sich mit ihren Fragen und Kommentaren wohler fühlen und offen sprechen?