Unerwartet

Gut fünf Jahre ist es her, so habe ich es jedenfalls rekonstruiert. Volker Remmert fragte mich für einen Mini-Workshop in Oberwolfach an zu einem Thema, das auf den ersten Blick nichts mit meiner Forschung zu tun hat:
Es ging um den Beginn der Tagungstradition dort, am MFO, in den unterschiedlichen Gebieten der Mathematik und Mathematikgeschichte. Ich wusste zu dem Zeitpunkt nicht, dass die Tradition der Gruppentheorietagungen dort schon sehr früh begonnen hatte, und ich hätte gedacht, dass ältere Kolleg:innen mit mehr Erfahrung, die selbst schon bei vielen solchen Tagungen waren, besser geeignet sind als ich, um sich historische Unterlagen anzuschauen und den Beginn der Tagungen zu rekonstruieren und einzuordnen.

Es kam dann aber so, dass ich Teil eines bunten Teams wurde, das sich (mit mehreren Terminverschiebungen und pandemiebedingt in Zoom-Meetings) intensiv mit den verschiedenen Tagungsreihen befasste und auch mit den Rahmenbedingungen, etwa in der Wissenschaftspolitik. Die Mischung an Menschen war sehr spannend für mich, die Vorträge waren faszinierend und brachten mich zum Nachdenken über Fragen, die ich mir selbst nicht gestellt hätte – so unterschiedlich waren die Perspektiven aus den verschiedenen Fachkulturen. Meine eigene Arbeit in dem Projekt fühlte sich an wie eine Spuren- oder vielmehr Schatzsuche. Alte Briefe, Unterlagen, Fotos. Veröffentlichungen, die mal mehr, mal weniger zu Vorträgen auf Tagungen passten. Hinweise auf persönliche Freundschaften oder darauf, wie Ideen innerhalb der Community unterwegs waren. Eine Frage auf der einen Tagung führt zu einem Vortrag auf der nächsten Tagung. Termine werden ausgehandelt und wichtige Leute zuerst eingeladen. Doktorand:innen werden mitgebracht und es entsteht ein ganz spezieller Tagungsstil.

Die Arbeit hat mich extrem fasziniert. Nicht nur, weil ich mein Forschungsgebiet noch einmal aus einem anderen Blickwinkel anschauen und kennenlernen durfte, sondern weil bekannte Resultate von berühmten Personen plötzlich einen Kontext bekamen. Ich konnte die Anspannung quasi fühlen, die im Publikum gewesen sein muss, wenn jemand einen großen Fortschritt bei einer berühmten offenen Vermutung präsentiert hat.

Der Mini-Workshop hat mich mit der wissenschaftshistorischen Community in Kontakt gebracht, speziell mit der Mathematikgeschichte, und hat mir die Augen für deren Fachkultur und Arbeitsweise geöffnet. Das geht jetzt weiter im nächsten Forschungsprojekt mit Volker Remmert, wo wir die Geschichte der Klassifikation der endlichen einfachen Gruppen untersuchen. Nachdem ich beim Mini-Workshop so viel Spaß an meiner Arbeit und an dem fachübergreifenden Austausch hatte, war klar, dass ich auch diese neue, größere Projekt sehr aufregend finden würde. Wie sehr es mich begeistert, überrascht mich aber von Zeit zu Zeit noch. Die Resonanz, auf die es trifft, die vielen Fragen, die ich dazu bekomme, überraschen mich auch manchmal noch.

Ziemlich unerwartet kommt aber, wie sehr ich merke, dass diese Arbeit mich verändert. Das habe ich bei bisherigen Forschungsprojekten nicht so extrem erlebt. Klar, bei neuen Fragen lerne ich viel dazu, bei neuen Co-Autor:innen mache ich neue Erfahrungen und brauche vielleicht neue soziale Kompetenzen. Aber hier ist es anders, so als hätte die wissenschaftshistorische Arbeit für immer verändert, wie ich Texte lese, worauf ich achte und sogar, wie ich unterrichte.

Fallen Ihnen Beispiele ein, wo Ihre Arbeit sie auf eine unerwartete Weise verändert hat?
Ihr Wissen, Ihre Perspektive, wie Sie sozial interagieren, wie Sie mit Ihrer Zeit umgehen oder Prioritäten setzen?

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