Wie sehr denken Sie in sozialen Situationen die Perspektive anderer Menschen mit?
Die der anwesenden? Vielleicht sogar die von Menschen, die gar nicht dabei sind, die aber betroffen sein könnten?
Wo haben Sie schon erlebt, dass „Mitmeinen“ oder „Mitdenken“ nicht funktioniert und plötzlich ganze Gruppen von Menschen mit ihren Bedürfnissen übersehen werden?
Private soziale Situationen sind das eine, in beruflichen Situationen oder bei wichtigen Entscheidungen kann diese Art von Mitdenken plötzlich eine große Rolle spielen. Für mich ist das immer dann relevant, wenn ich mit mehreren Kolleg:innen in einem Team zusammenarbeite, und besondes spannend wird es, wenn wir in der Lehre zusammenarbeiten und es nicht nur um uns geht, sondern auch um ganz viele Studis.
Da sind wir nun also in einem mehrfach diversen Team, wollen die interne Diversität gut berücksichtigen, Hierarchie und Erfahrungen navigieren und
müssen dann auch noch Entscheidungen für die Studis treffen. Egal, wie sehr ich mitdenke, da sind natürlich blinde Flecken. Kollektiv haben wir dann hoffentlich schon weniger, aber selbst da ist noch Luft nach oben. Denn die konsequente Weiterentwicklung von „Mitdenken“ ist „Weiterdenken“ im Sinne von „Vorausdenken“, und zwar genau da, wo die eigenen blinden Flecken sind. Das geht häufig gar nicht, aber ich übe das jetzt und möchte daher hier ein paar Beispiele reflektieren, die zumindest teilweise reale Vorbilder haben.
- Die verschiedenen Leute im Team haben unterschiedlich große Bedürfnisse nach informeller sozialer Interaktion. Manche gehen zusammen in die Mensa, manche wollen allein Mittagspause machen.
Manche mögen informelle Arbeitstreffen mit Kaffee, Keksen und auch etwas privatem Austausch, manche nicht. Da kann ich mitdenken, indem ich betone, was freiwillig ist und wo ich Teilnahme erwarte, und ich kann die Abläufe so strukturieren, dass es Optionen gibt. Zum Beispiel Arbeitstreffen mit Kaffee, aber zuerst wird alles besprochen, was wichtig ist und wo ich alle brauche, und dann gibt es für die, die Lust haben, den eher privaten Teil. Klappt nur, wenn dann auch wirklich akzeptiert wird,
wenn ein, zwei Leute sich vom privaten Gequatsche verabschieden.
Noch mehr mitdenken kann ich, indem ich von Anfang an kommuniziere, dass mir die verschiedenen Vorlieben bewusst sind, wo ich mich selbst auf dem Spektrum sehe und wann und wie wir das am besten thematisieren. Sonst kommen manche Menschen gar nicht erst auf die Idee, mir zu sagen, wo sie mehr oder weniger soziale Interaktion haben möchten. Die müssen sich von mir gesehen fühlen und wir müssen über Optionen sprechen, und zwar möglichst früh. Nicht erst dann, wenn mir eine Person sagt, dass sie sich unwohl fühlt. - Unsere Arbeitsweisen und Tagesrhythmen sind unterschiedlich. Wenn wir also etwas gemeinsam machen (Prüfungen, Seminartage, Ausflug zu einer Konferenz), dann ist meine Aufgabe, mitzudenken, dass die Leute verschiedene Dinge gut und gern machen und evtl. zu verschiedenen Tagszeiten. Ich bin selbst zum Beispiel komplett ungeeignet für ein soziales Abendprogramm mit Kneipentour bis 2 Uhr morgens, aber stehe dafür umso fröhlicher morgens mit frischem Kaffee und Tee bereit.
Wieder möchte ich weiterdenken als nur bis zum Umgang mit den Vorlieben, wenn ich sie denn kenne. Ich möchte aktiv dazu einladen, darüber mit mir zu sprechen, rechtzeitig vorher, und dann Optionen parat haben. Wenn jemand allein zur Konferenz reisen möchte und nicht in der Gruppe – ok, natürlich! Was ist an Logistik zu beachten?
Wenn jemand gewisse Aufgaben nicht gern oder nicht gut macht und dadurch bei anderen mehr Arbeit liegen bleibt dann muss ich mir überlegen, was das bedeutet und wie wir das kompensieren können.
Wo sollte die Person dazulernen oder aus der Komfortzone rausgehen?
Wo sollten wir Rücksicht nehmen, und was für andere Aufgaben kann die Person dann übernehmen, damit es insgesamt fair bleibt? All das trägt dazu bei, dass wir überhaupt frühzeitig darauf eingestellt sind und Leute sich trauen, so etwas anzusprechen. - Auch die Studis brauchen Unterschiedliches. Es reicht nicht, daraus zu lernen, dass in der letzten Klausur eine gewisse Formulierung ganz oft missverstanden wurde. Wenn wir als Team schon so divers sind, dann können wir uns auch anstrengen und uns fragen: Wo gibt es noch Potential für Fehler und Missverständnisse? Was können wir vorher schon besprechen, üben, im Gespräch mit den Studis klarer machen? Wie etablieren wir möglichst früh mit den Studis eine Kultur, in der sie ganz selbstverständlich ansprechen, wenn sie Aufgabenstellungen unklar finden oder Bewertungsmaßstäbe nicht transparent genug?
Wo überall können wir Fehlerkultur üben und dadurch das Vertrauen aufbauen, dass alles gehört wird und Offenheit oder kritische Nachfragen nicht bestraft werden?
Die Leitfrage, die die Beispiele verbindet und die ich mir jetzt immer öfter stelle, ist die: Was ist nötig, damit die betroffenen Personen überhaupt auf die Idee kommen, dass es einen Raum für ihr Bedürfnis gibt, ihre Fragen, einen Sonderwunsch? Ich kann als Teil eines Teams sagen, dass ich auf einer Konferenz nicht für das abendliche Unterhaltungsprogramm zuständig sein möchte und kann das ggf. auch begründen. Eine andere Person hat vielleicht auch eine Vorliebe oder Abneigung bei gewissen Aufgaben, kommt aber gar nicht auf die Idee, dass es eine Option sein kann, das zu äußern. Das muss vielleicht jemand vormachen (Lernen durch Beispiel) oder eben explizit ansprechen. Beim üblichen „Brainstorming, was zu tun ist“, Aufgabenverteilung auf Zuruf oder Warten, wer sich wofür freiwillig meldet, kann sowas leicht untergehen. (Dementsprechend schrecklich finde ich das.)
Wo haben Sie das schon erlebt?
Wo wären Sie nicht auf die Idee gekommen, eine persönliche Vorliebe oder Abneigung anzusprechen und nach einer Veränderung zu fragen?
Wo könnten Sie das selbst mehr mitdenken?