Wahrnehmung

Das waren zwei spannende Tage. Eine fachübergreifende Konferenz, ausgerichtet von einer Stiftung, und die Idee war, dass alle Projekte aus einem bestimmten Format und einer bestimmten Förderrunde dort mit ihren Ergebnissen vorgestellt werden. Ich war mit einem Kollegen dabei, mit dem einzigen mathematischen Projekt. Die meisten anderen Themen waren biologisch oder medizinisch orientiert, teilweise mit Chemie- oder Technikbezug, jedenfalls klar aus einer anderen Fachkultur. Faszinierende Vorträge, mit vielen Bildern, Grafiken und Videos (oft mit Tierversuchen), die Projekte waren häufig aus verschiedenen Quellen finanziert und aufwändig in riesigen Teams bearbeitet worden. Es gab viele Fragen und Diskussionen, jedenfalls meistens, und die Qualität der Vorträge war auch insgesamt recht hoch. Die meisten haben sich bemüht, ihr Thema gut zu erklären und zugänglich zu machen, deshalb habe ich viel gelernt und fand es hochgradig interessant.

Wie meistens bei Konferenzen gibt es Hochs und Tiefs. Zu gewissen Zeiten am Nachmittag oder Abend wird es ruhiger, die Leute fragen weniger. Unser Vortrag lag in einer dieser Zeiten, fast am Ende der Konferenz, und außerdem waren wir auf ein eher unmathematisches Publikum eingestellt. Dementsprechend viel Mühe haben wir uns gemacht, alles gut zu motivieren, viele Beispiele zu bringen und auch durch eine ungewöhnliche Vortragsart die Leute aufmerksam und interessiert zu halten. Die Leute wirkten freundlich, guckten etwas müde, aber interessiert, lachten manchmal, es schien ganz gut anzukommen. Nach dem Schlussapplaus gab es aber nur eine Frage und nicht, wie sonst oft, gleich mehrere. Beim Vortrag danach, dem letzten der Konferenz, war es genau so. Seltsam, was war da los?

Was dann in meinem Inneren ablief, ist typisch. (Nicht nur für mich.) Es beginnt ein innerer Film nach dem Motto: Oh, die fanden es langweilig, oder sie haben nichts verstanden, oder das Thema war für sie zu weit weg, oder wir haben es nicht gut erklärt, oder ihnen war die Fragestellung nicht klar, wir hätten mehr bunte Bildchen zeigen sollen, oder komplizierte Formeln, oder … Moooooment. Welche Infos haben wir? Es gab Applaus, eine Frage, noch mehr Applaus, freundliche Gesichter. Keine Buhrufe, niemand saß schnarchend auf dem Stuhl oder ist weggelaufen. Alles andere ist Interpretation. Kopfkino.

Wäre es so geblieben, wären wir wohl mit sehr gemischten Gefühlen nach Hause gefahren. Insgesamt zu dritt, konnten wir das immerhin diskutieren, vielleicht war ja bei dem Vortrag wirklich noch Luft nach oben? Klar, wir hätten es bestimmt noch etwas besser machen können. Aber der Eindruck inkusive Kopfkino veränderte sich lustigerweise sofort, als die Konferenz zuende war. Gleich mehrere Leute kamen auf uns zu und stellten Fragen oder machten Kommentare. Wir fanden unerwartete Anknüpfungspunkte an Forschungsthemen anderer Teilnehmer*innen. Gleich mehrmals wurde ich angesprochen, wie originell unser Vortragskonzept war, dass die Leute richtig viel von den Ideen verstanden haben, aber „die Energie reichte gerade nicht, um gleich Fragen dazu zu stellen“. Ach so! Nach etwas Nachdenken und ausführlicher Besprechung auf der Zugfahrt zurück nach Halle nehme ich drei Beobachtungen mit:

  1. Wir haben ständig Kopfkino, oft auf der Grundlage nur weniger Infos, und da kann viel schiefgehen. Unsere Wahrnehmung ist meistens verzerrt. Je nach Veranlagung malen wir uns die schlechteste Möglichkeit aus und beziehen alles auf uns selbst, evtl. überkritisch, oder wir malen uns das denkbar beste Bild aus, weil unser Ego dann keinen Schaden nimmt.
  2. Direkte Rückmeldungen können das Kopfkino relativieren. Wenn die nicht von allein kommen, muss man evtl. mal nachfragen.
  3. Selbst Rückmeldungen zu geben, kann das Kopfkino anderer Leute relativieren! Wenn sich jemand ständig selbst feiert und nicht mitbekommt, dass mal etwas nicht gut gelaufen ist und dass es da noch Luft nach oben gibt, dann kann man (je nach Beziehung) mit vorsichtiger, konstruktiver Kritik etwas zurechtrücken und der Person damit helfen. Viel wichtiger finde ich aber, zu sagen, wenn man etwas gut fand. Es stimmt eben nicht, dass Leute grundsätzlich selbst merken, wenn etwas gut läuft, denn vielleicht haben die gerade Selbstzweifel-Kopfkino! Also: Öfter mal den Mund aufmachen und einfach sagen „Toller Vortrag!“ oder „Danke für die gute Erklärung, die hat mir geholfen!“ oder so.

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