Beispiel 1:
Ich nehme eine Prüfung ab. Der Student antwortet langsam, macht viele Pausen, fragt ab und zu nach. Im Nachgespräch sagt meine Beisitzerin, dass der Student unsicher auf sie gewirkt habe. Anscheinend habe er sich nicht gut vorbereitet und habe versucht, durch das Nachfragen noch Hinweise von mir zu bekommen. Ich musste ihm alle Antworten aus der Nase ziehen. Dadurch haben wir dann auch nicht so viel Stoff geschafft, folglich kann gar keine gute Note mehr gegeben werden. Erstaunt höre ich zu – ich hatte den Eindruck, dass der Student einfach nur etwas nervös war, nachgedacht hat und sich die Formulierungen sorgfältig überlegt hat, damit er nicht aus lauter Nervosität Quatsch erzählt. Die Nachfragen fand ich meistens gut, da wollte er einfach nur sicher sein, dass er die Frage richtig verstanden hat. Ja, dadurch konnten wir die Zeit nicht so gut nutzen, das hat Einfluss auf die Note. Insgesamt bewerte ich die Prüfung deutlich anders als meine Beisitzerin. Dabei waren wir beide dabei, wir haben beide gleichzeitig den Studenten gesehen und gehört.
Beispiel 2:
Wir sitzen in einer Gruppe und sollen einen Antrag bewerten, der aus einem inhaltlichen Teil und einem Fachgutachten besteht. Kollege 1 findet den inhaltlichen Teil viel zu knapp formuliert. Wie soll man sich so eine Meinung bilden? Das Gutachten dagegen ist schön ausführlich. Ich mag es, dass der inhaltliche Teil so klar auf den Punkt kommt und dass da nicht so viel gequatscht wird. Das Gutachten finde ich in Teilen etwas ausschweifend, aber das macht nichts, weil ich es auch mag, viele Hintergrundinformationen zu bekommen. Kollegin 2 ist dagegen genervt vom langatmigen Stil des Gutachtens und findet, dass man sich da nur auf die wichtigsten fachlichen Punkte hätte konzentrieren sollen. Aber das sei typisch, Kolleg*in XY schreibe immer solche Gutachten. Was mache ich mit der Info? Ist sie relevant? Schließlich ist es „nur“ die Meinung der Kollegin. Aber vielleicht beeinflusst das, wie ich das Gutachten wahrnehme. Die gleichen Unterlagen, aber wir interpretieren sie sehr unterschiedlich.
Diese beiden Beispiele sind fiktiv, aber angelehnt an Situationen, die ich schon oft erlebt habe. Je mehr Leute, desto lustiger. Und alle glauben natürlich, dass es so ist, wie sie es wahrnehmen. Das ist kein Geheimnis, es gibt ganz viel Forschung dazu, aber wir berücksichtigen es nicht genug! Ich ertappe mich auch oft dabei, dass ich denke „Aber das war doch soundso!“ oder „Aber das habe ich doch ganz klar gesagt!“ Naja, ich habe es soundso in Erinnerung und ich dachte, dass ich es klar gesagt habe. In Gesprächen, in denen nicht alle gleichberechtigt sind (oder sich so fühlen), passiert es schnell, dass eine Meinung dominiert und andere nicht mehr angehört werden. Man „sieht das dann falsch“ oder „kann das nicht richtig einschätzen“. Was aber, wenn die Mehrheitsmeinung einer dominanten Person folgt, die zuerst das Wort ergriffen hat, und die zum Beispiel Vorurteile hat? Die Wahrnehmung ist dann mit diesen Vorurteilen gefärbt, und das wahrscheinlich ohne, dass die Person das selbst merkt. Da ist der Student, der langsam antwortet, dann eben unsicher und hat sich nicht gut vorbereitet. Und wenn ich als Prüferin ungeduldig werde und ausstrahle, dass mich die Leistung nicht überzeugt, verunsichere ich den Studenten erst so richtig und beeinflusse das Prüfungsergebnis negativ. Dabei meine ich hauptsächlich Interaktion – an anderer Stelle, wie zum Beispiel bei richtig oder falsch ausgeführten Rechnungen oder Argumenten, muss man tatsächlich nicht diskutieren. Das macht es in der Mathematik oft etwas einfacher.
Grundsätzlich denke ich, dass uns oft nicht klar ist, wie sehr das, was wir denken, glauben oder erfahren haben, unser Verhalten und dann auch das Verhalten anderer Menschen beeinflusst. Auch dann, wenn wir uns dessen nicht bewusst sind. Meine Studis spüren, ob ich sie für kompetent und engagiert halte oder nicht. Meine Reaktionen in einer Prüfung beeinflussen das Ergebnis der Prüfung mit. Deswegen haben sowohl positive als auch negative Vorurteile eine Wirkung auf das Prüfungsergebnis. Wenn also im ersten Beispiel meine Beisitzerin eine andere Auffassung hat als ich, dann liegt sie nicht automatisch falsch! Wir haben die gleiche Situation unterschiedlich eingeschätzt, und unsere Einschätzung hat längst nicht nur damit zu tun, was „tatsächlich“ passiert ist, sondern sie sagt auch viel über uns selbst aus. Über unsere Tagesform, Erfahrungen, Vorlieben.
Entscheidungen und Beurteilungen sind besser, wenn wir uns bewusst machen, wie subjektiv es ist, was wir wahrnehmen. Wer im Meinungsaustausch so tut, als sei es „ganz klar so und so“, stellt seine eigene subjektive Wahrnehmung über die der anderen und erschwert einen wirklichen Austausch. Je nach Gruppendynamik gehört dann viel Mut dazu, sich anders zu positionieren. Das ist Ihnen bestimmt auch schon passiert, oder? Haben Sie schon erlebt, dass für Sie die Lage glasklar war und Sie nicht glauben konnten, dass man die Dinge auch anders sehen kann? Oder haben Sie es anders gesehen und aufgrund der Meinung der anderen an Ihrer eigenen Wahrnehmung gezweifelt? War die Gesprächsatmosphäre so, dass Sie sich wohl damit fühlten, Ihre abweichende Auffassung auch einzubringen? Wenn nicht, warum nicht? Was muss man tun, um so eine Atmosphäre zu schaffen?