Ein Jahr später

In diesem Text geht es um Erwartungen, speziell dann, wenn wir uns vor einem Termin oder einem bestimmten Tag Sorgen machen oder sogar Angst haben. Es geht um die Befürchtung, schwierige Gefühle noch einmal zu erleben. Sich an Schmerz nicht nur zu erinnern, sondern ihn noch einmal intensiv zu fühlen. Im schlimmsten Fall retraumatisiert zu werden. Wenn Sie da einen wunden Punkt haben, dann ist das hier ein freundlicher Warnhinweis.

Denn es geht mir hier darum, vorbereitet zu sein für den Ernstfall, aber sich nicht schon vorher komplett verrückt zu machen. Was ich in den letzten Monaten darüber gelernt habe, empfinde ich als so wertvoll, dass ich es teilen möchte. Mir wird das in Zukunft noch oft helfen, und ich werde mir Mühe geben, verschiedene Beispiele aufzuzählen, in denen ich mir vorstellen kann, dass da ähnliche Strategien wirken können.

Der Todestag meines Mannes hat sich vor einer Weile zum ersten Mal gejährt. Ich hatte richtig viel Angst davor, vor den Erinnerungen. Dabei erinnere ich mich sowieso ständig daran. Aber meine Befürchtung war, dass ich ein Jahr später quasi alles noch einmal durchlebe, den ganzen Schmerz. Darauf wollte ich vorbereitet sein und habe überlegt – mit wem kann ich sprechen? Wer hat ähnliche Erfahrungen gemacht? Dabei habe ich vernachlässigt, dass es das erste Mal war und ich daher überhaupt keine Erfahrungswerte hatte. Da andere Menschen anders trauern, da wir alle individuelle Erfahrungen machen, ist gar nicht klar, dass mir weiterhilft, was anderen weitergeholfen hat. Und warum genau sollte es ausgerechnet ein Jahr später besonders schlimm sein? Rede ich mir vielleicht nur ein, dass gewisse Daten gewisse Erinnerungen automatisch auslösen und sie größer machen, deutlicher?

Ich habe mich abgesichert. Meine Entscheidung war, allein zu sein, nicht zu verreisen oder Besuch zu bekommen. Aber ich war dankbar für die Menschen, die gesagt haben, dass ich sie anrufen kann. Oder dass sie sich auf den Weg zu mir machen würden, falls es doch noch nicht allein geht. Es gab also ein festes Sicherheitsnetz. So wie die ganze Zeit. Kurz vorher bekam ich dann noch den vielleicht wichtigsten Hinweis: Ja, es kann sein, dass es ganz schlimm wird. Vielleicht aber auch nicht.


Wie geht es mir mit dem Gedanken, dass es nicht so schlimm wird wie befürchtet? Wäre das ok? Würde ich mich schuldig fühlen? Bin ich offen für die Erfahrung, für diesen ersten Jahrestag, unabhängig davon, wie schlimm es wird? Möchte ich ein Ritual etablieren? Oder lieber gerade nicht?

Plötzlich war die Angst fast weg. Viele liebe Menschen haben an mich gedacht und haben mich kontaktiert, weil sie wussten, was kommt. Es waren noch mehr Menschen von diesem Tag betroffen, von der Trauer. Wir konnten getrennt voneinander gemeinsam mit dem Tag umgehen. Es kamen weitere Jahrestage. Die Bestattung. Sein Geburtstag. Für alle Menschen außer mir ist es damit geschafft, alles hat sich einmal gejährt, wir wissen jetzt, wie sich das anfühlt. Für mich gibt es noch andere signifikante Tage, die ich jetzt ohne ihn verbringe. Ich werde lernen, damit umzugehen. Und ich werde nicht mehr wochenlang vorher Angst haben davor, wie es sich anfühlen wird.

Es war ein sehr wertvoller Rat, sich zwar abzusichern, aber nicht zu glauben, dass man genau wisse, was da jetzt kommt. Dass es auf jeden Fall ganz schrecklich wird. Sondern offen zu sein für die Erfahrung. An welche Situationen denken Sie jetzt, wo das noch Anwendung finden könnte?
Machen Sie sich regelmäßig vor dem Urlaub verrückt und denken daran, was alles auf der Fahrt schiefgehen könnte?
Verspätete oder überfüllte Züge?
Stau?
Haben Sie Angst vor wichtigen Terminen und malen sich aus, was alles passieren könnte?
Bei einem Vorstellungsgespräch, einer Prüfung, einer gesundheitlichen Routineuntersuchung? Einer Schwangerschaft?

Falls Sie Prüfungsangst haben und schon oft erlebt haben, wie Sie tagelang nicht esssen und schlafen können, dann kann ich gut verstehen, wenn Sie nun befürchten, dass es jedes Mal so sein wird. Aber in Wirklichkeit wissen Sie es nicht. Wie sieht ein gutes Sicherheitsnetz aus? Wer kann Sie im Vorfeld unterstützen, falls die Angst wirklich wiederkommt? Wie können Sie üben, mit dem aufsteigenden Gefühl der Angst umzugehen, damit es sich nicht immer weiter verstärkt? Was ist alles möglich zwischen „Da kommt es wieder und ist sogar noch schlimmer als beim letzten Mal“ und „Ach so, diesmal ging es ja.“? Wie sähe eine Haltung aus, bei der Sie zwar Angst bekommen und auch darunter leiden, es aber aushalten und den Weg weitergehen, weil Sie wissen, dass Sie heil auf der anderen Seite wieder rauskommen? Weil Sie bisher bei jeder Prüfung heil wieder auf der anderen Seite wieder rausgekommen sind? Egal, ob bestanden oder durchgefallen.

Ich kenne Menschen, die nach einem Autounfall jedes Mal, wenn sie an der Stelle langfahren, wo es passiert ist, Angst haben. Manche fahren dann mehrmals absichtlich da lang, ganz bewusst. Ich durfte da ein paar Mal Beifahrerin sein. Habe mir angehört, wie der Unfall passiert ist. Habe mir das mulmige Gefühl beim Vorbeifahren genau beschreiben lassen.

Manchmal fühle ich mich unwohl vor gewissen sozialen Situationen. Anstatt mir einzureden, dass ich schon genau weiß, was passieren wird und wo und wie genau ich mich unwohl fühlen werde oder was mich nerven/anstrengen wird, übe ich jetzt, auch da offen zu sein für das, was passiert. Manchmal kommt es ganz anders als erwartet. Ich verändere mich, andere Menschen auch, warum sollte sich alles bei jeder Begegnugn gleich anfühlen? Eigentlich gibt es keinen Grund, das anzunehmen.

Eine gewisse neugierige Offenheit, gepaart mit moderater Vorsicht, hat mich gut durch die letzten Wochen gebracht, besser als befürchtet. Allein schon deshalb möchte ich üben, diese Haltung so oft wie möglich einzunehmen.

Sie sind dran:
Wo könnten Sie eine solche Haltung einnehmen?
Vor welchen Terminen haben Sie Angst oder machen sich Sorgen?
In welche Situationen gehen Sie routinemäßig rein mit dem Gefühl, dass sowieso klar ist, wie das laufen wird?
Wo könnte das kontraproduktiv sein?
Wo wäre mehr Offenheit und Neugier hilfreich?
Wo fühlt sich das gefährlich an, wo möchten Sie sich absichern?

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