Der eigene Rat

Kennen Sie dieses Phänomen, dass jemand anderen bei Probleme gut helfen kann oder zumindest viele Ideen und Ratschläge hat, dass die Person aber bei sich selbst irgendwie ratlos ist? Oder dass jemand schnell über andere Menschen urteilt, oft Ratschläge gibt oder Verbesserungsvorschläge macht, den eigenen Rat aber selbst nicht zu beherzigen scheint?

Was diese beiden Situationen gemeinsam haben, ist, dass da jemand andere Menschen unterstützen oder beraten kann, sich aber selbst nicht in diesem Maße unterstützt oder den eigenen Vorschlägen zumindest nicht zu folgen scheint.

Ich beobachte die eine oder andere Variante davon jetzt schon länger, bei anderen oder bei mir selbst, und wegen der vielen Nuancen fand ich es schwierig, herauszuarbeiten, was all die Situationen gemeinsam haben. Gleichzeitig erlebe ich bei anderen Menschen, dass gewisse Ausprägungen des „nicht auf den eigenen Rat hören“ mich irritieren, und dann möchte ich herausfinden, warum das so ist. Anfangen möchte ich mit einer Einschätzung, die Sie vielleicht gar nicht teilen: Aus der Distanz zu bewerten ist einfacher als eine Beurteilung aus der Nähe.


Klingt unintuitiv, ist es auch, und es stimmt manchmal einfach nicht. Manche Menschen sind so bei sich und so reflektiert, dass sie sich selbst gut wahrnehmen und einschätzen und dass ihnen klar ist, wie schnell sie bei anderen Menschen Dinge falsch einschätzen, einfach weil sie nur unvollständige Informationen haben und sich den Rest selbst mit einer Geschichte zusammenreimen. So reflektiert zu sein, ist anstrengend, und sich immer wieder selbst daran zu erinnern, was wir alles über andere Menschen nicht wissen, auch. Viel einfacher und energiesparender ist es, aus dem, was wir sehen, eine Geschichte zu stricken und dann zu beurteilen, was wir sehen, ggf. gleich mit Vorstellungen darüber, wie es besser laufen könnte. Das kann dazu führen, dass wir mit anderen Menschen viel freundlicher sprechen als mit uns selbst und dass wir es bei ihnen viel leichter finden, ihnen zuzuhören und sie bei Schwierigkeiten zu unterstützen als bei uns selbst. Daher kommen Hilfestellungen wie „Was würden Sie Ihrer besten Freundin oder Ihrem Kollegen in dieser Situation raten?“. Und das kann wirklich sehr hilfreich sein. Es gibt aber auch noch eine andere Seite dieses Phänomens.

Jemand ist ständig unpünktlich?
Da kann man doch was machen, es gibt so viele Kniffe und Ratschläge dazu,
kann doch nicht so schwierig sein.
Was ist mit unserer eigenen Unpünktlichkeit?
Haben wir solche Kniffe ausprobiert?
Falls sie nicht gut funktionieren – warum nicht?
Gestehen wir den anderen unpünktlichen Menschen zu, dass sie auch bereits Erfahrungen mit Ratschlägen gemacht haben, die ihnen nicht weitergeholfen haben?
Interessanterweise kann das zu Reflexen führen, die nicht hilfreich sind: Wenn eine Person, die selbst unpünktlich ist, uns Ratschläge für mehr Pünktlichkeit gibt, nehmen wir die vielleicht nicht ernst und denken „Mach doch erst mal selber.“ Dabei blenden wir aus, dass die Person vielleicht gerade deshalb so viel über das Thema weiß, und uns auch wirklich weiterhelfen könnte, weil sie sich mit dem Thema schon viel beschäftigt hat. Aus offensichtlichen Gründen. Warum die Person selbst trotzdem noch unpünktlich ist, können wir nicht wissen und es hat erst mal nichts mit unserer eigenen Unpünktlichkeit zu tun. Trotzdem irritiert sowas manchmal, auch mich, und ich habe überlegt, was da passiert.

Auch wenn ich selbst pünktlich bin, bleibe ich mal bei dem Beispiel und erfinde etwas. Stellen wir uns also Folgendes vor: Ich werde von einer Person, die selbst ständig unpünktlich ist, für meine Unpünktlichkeit kritisiert. Warum ist diese Kritik unangenehmer als die einer Person, die selbst pünktlich ist, und warum fühlt sie sich weniger berechtigt an? In beiden Fällen wird doch auf das gleiche Verhalten hingewiesen, und die Person hat recht mit ihrem kritischen Hinweis auf mein Verhalten. Ich könnte also auch in beiden Fällen gleich reagieren, nämlich mit „Tut mir leid“, mit „Ich kann nichts dafür, denn …“ oder auch mit „Ist mir egal“.

Meine Vermutung für Gründe für die unterschiedliche Wahrnehmung ist, dass ich zwar weiß, dass die Kritik berechtigt ist, dass ich sie aber eigentlich
nicht hören und mich damit innerlich auseinandersetzen möchte. In dem Fall, wo die Kritik von einer Person kommt, bei der ich spontan denke „Mach doch erst mal selber.“, ist es leicht, die Kritik abzuwerten und nicht ernst zu nehmen. Mein Ego wird beschützt. Mein Fehlverhalten ist im Vergleich nicht so schlimm, ich muss mich nicht damit auseinandersetzen. Leider hindert mich diese Denkweise daran, mein Verhalten zu hinterfragen und ggf. zu verändern. Es wäre viel hilfreicher, solche Hinweise (und ggf. auch Ratschläge) etwas von der Person zu entkoppeln, die sie macht, und sie dann inhaltlich zu bewerten und etwas davon umzusetzen.

Die andere Person, die mich trotz eigener Unpünktlichkeit kritisiert, kann ganz viel von der Irritation wegnehmen, indem sie das zum Thema macht.
„Mich stört, dass Du oft so unpünktlich bist. Mir ist klar, dass ich da selbst kein gutes Vorbild bin, und ich arbeite auch daran, aber trotzdem möchte ich jetzt einmal sagen, dass mich dieses Verhalten bei dir stört.“ Klingt anders, als wenn die Kritik einfach so ohne Kontext kommt.

Wo kritisieren Sie oder geben Ratschläge aus einer solchen Position heraus,
und wie könnten Sie Ihr eigenes Verhältnis zum Thema explizit ansprechen, so dass die andere Person auch annehmen kann, was Sie sagen?
Und stimmt es eigentlich, dass Sie Ihren eigenen Rat schon angenommen haben, dass Sie sich selbst schon kritisch mit dem Thema auseinandergesetzt haben?
Oder haben Sie hier unterschiedliche Maßstäbe für sich selbst und Ihre Mitmenschen?
Wo können Sie sich selbst einen besseren Rat geben, indem Sie sich vorstellen, dass Sie mit einer anderen Person sprechen?

Ein Gedanke zu „Der eigene Rat

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