Bevor es losgeht:
Was für Assoziationen haben Sie jeweils zu den Wörtern „Halten“ und „Aushalten“?
Und sind die dann jeweils positiv konnotiert, negativ, neutral?
Bei mir bewirkt „Aushalten“ sofort eine Aktivierung. Aushalten, ertragen, sich hilflos fühlen. Unzählige Erinnerungen an unangenehme soziale Situationen, unfreundliches oder manipulatives Verhalten, endloser Smalltalk, aber auch Beleidigungen und Aggression.
„Halten“ hat ganz viele verschiedene Bedeutungen, ich assoziiere das zum Beispiel mit Tanz, wo eine Pose gehalten wird. Ich halte Spannung im Körper, wenn ich singe oder spreche. Ich halte Aufmerksamkeit und Fokus, wenn ich jemandem zuhöre. Halten im Sinne von „Anhalten“ fällt mir auch ein.
Jetzt geht es mir um den Unterschied zwischen „Aushalten“ und „Halten“ und die Frage, wie der Weg von „Ich kann das nicht (oder kaum) aushalten!“ hin zu „Ich kann das halten.“ aussehen kann.
Vielleicht geht es nur um ein unangenehmes Körpergefühl wie Müdigkeit oder eine leichte Verspannung. Vielleicht geht es um eine unangenehme soziale Situation. Vielleicht geht es um Gefühle, die kaum auszuhalten sind, wie etwa Liebeskummer, Wut oder Trauer.
Für mich besteht dann der erste Schritt weg vom reinen Aushalten darin, mich zu fragen, ob ich gerade etwas an der Situation ändern kann. Kann ich sofort etwas tun, so dass da gar nichts mehr zum Aushalten ist? Oder weniger? Falls ja, möchte ich das? Gibt es Nachteile dadurch, zum Beispiel soziale Kosten? Falls ich nichts ändern kann oder möchte, dann heißt das, dass ich die Situation erst mal so akzeptiere, wie sie ist. Dann geht es weiter: Was wäre, wenn ich gar nichts weiter tun muss und es völlig in Ordnung ist, das für eine Weile auszuhalten? Wenn ich zum Beispiel auf einer Konferenz bei einer Wine Reception so rumstehe, den Smalltalk langweilig finde und (noch) keine Person für ein interessantes Gespräch gefunden habe, dann wird das schnell unangenehm. Körperlich unangenehm, ich möchte dann einfach nur weggehen. Viele Jahre lang habe ich dann gelächelt, mich höflich am Gespräch beteiligt und ausgehalten, dass das eigentlich schrecklich ist. Aber nun probiere ich aus, das zu halten.
Wenn es ganz schlimm ist, kann ich weggehen, aber ich kann auch eine Weile da stehen, mein Unwohlsein wahrnehmen, nichts sagen und denken „Ich fühle mich unwohl, ich wäre gern woanders, aber für den Moment ist das ok.“ Vielleicht ergibt sich die Gelegenheit für eine Frage, mit der das Gespräch interessanter wird. Vielleicht nicht. Aber es fühlt sich dann nicht mehr wie „Aushalten“ an, sondern wie „Halten“. Ich halte die Spannung, das Unwohlsein, das Gefühl, nicht so leicht ein authentisches und sozialverträgliches Verhalten finden zu können, und es ist in Ordnung. In Wirklichkeit passiert ja nichts Schlimmes, und zwischendurch hänge ich vielleicht meinen eigenen Gedanken nach.
Kürzlich hatte ich einen ganzen sehr langen Abend mit genau diesem Wechselspiel aus Unwohlsein, Halten und ab und zu der Frage, ob ich in eine angenehmere Situation kommen kann. So hatte ich mehrmals tiefere, interessante Gespräche mit jeweils einer oder zwei Personen, und den Rest der Zeit saß oder stand ich etwas unglücklich herum und habe das gehalten. Es wäre extrem unhöflich gewesen, immer wegzugehen, wenn ich mich länger unwohl gefühlt habe, und ich hatte oft keinen Einfluss darauf, wer die anderen Leute sind und wie genau sich die soziale Situation gestaltet. (Lesezeichen: Vor- und Nachteile von Tischordnungen.)
Und hier ist die Pointe: Indem ich selbst übe, solche Situationen zu halten, werde ich auch besser darin, das für andere Menschen zu tun. Im normalen sozialen Kontext, aber zum Beispiel auch im Hörsaal oder Seminarraum. Wenn da schwierige Gefühle aufkommen, jemand unsicher ist oder sich im Ton vergreift, dann kann ich die Spannung, die da entsteht (bei mir und bei den anderen), besser halten und kann hoffentlich ruhig reagieren.
Das Halten unangenehmer Gefühle bei anderen Menschen ist eine Kategorie für sich – zu groß ist die Versuchung, das gleich heilen oder das Problem lösen zu wollen. Manchmal ist das gar nicht hilfreich.
Was denken Sie? Wo halten Sie aus, wo halten Sie?