Eigentlich ist es ein Grund für großen Ärger: 150 Studis in einer Pflichtvorlesung, aber nur 90 Plätze im Hörsaal.
Nein, Moment: Die vielen Studis sind Grund zur Freude! Nur der zu kleine Raum ist ärgerlich.
Nach dem Motto „In der Beschränktheit zeigt sich wahre Meisterschaft“ (Goethe, glaube ich) habe ich überlegt, was ich den Studis anbieten kann. Auch die Studis selbst haben überlegt und haben mir gleich mehrere Überraschungen beschert.
1. Die Studis selbst sind sehr engagiert und einfallsreich, wenn es darum geht, trotz eines zu kleinen Hörsaals eine gelungene Lehrveranstaltung hinzukriegen. Am Ende ist es ihrem Einsatz zu verdanken, dass die Vorlesung jetzt gefilmt wird. Es gab noch viele andere Ideen, abe vor allem hat mich der Einsatz beeindruckt. Da haben Leute wirklich für die Gemeinschaft mitgedacht und überlegt, wie sie ihre Kommiliton*innen unterstützen können.
2. Ich habe zwei Formate zur Auswahl gestellt. Entweder ganz normale Vorlesung, und wer keinen Platz bekommt, hat halt Pech gehabt (mit den üblichen Audios, Podcast etc.), oder es gibt ein grobes Skript und die Vorlesungszeit wird für das Besprechen der Details und Fragen verwendet. Ich hätte gedacht, dass die Studis ein Skript haben wollen, sich für die zweite Variante entscheiden und dass mit der Zeit immer weniger Leute zur Vorlesung kommen. Hat gar nichts mit meiner eigenen Erfahrung zu tun, sondern eher damit, was mir Kolleg*innen im Lauf der Jahre so aus ihren Veranstaltungen erzählt haben. Deshalb war ich sehr überrascht davon, wie deutlich die Mehrheit für das normae Vorlesungsformat ausfiel.
3. Die Theorie sagt (und wieder berufe ich mich auf Berichte und Befürchtungen von Kolleg*innen): Wenn es Videos gibt, kommt keiner mehr in die Vorlesung. Naja, der Hörsaal ist jetzt so leer, dass niemand mehr auf der Treppe oder dem Boden sitzt, und vielleicht werden es ja wirklich bald viel weniger. Aber aktuell kommen noch zahlreiche Studis zum Live-Erlebnis in die Vorlesung. Spannend war für mich, warum. Wenn es doch die Videos gibt, wieso kommt man dann noch zur Vorlesung in den zu kleinen, schnell stickigen Raum?
Hier sind ein paar der Antworten.
„In der Vorlesung kann ich mich besser konzentrieren und lasse mich nicht so schnell ablenken.“
„In der Vorlesung kann ich Fragen stellen und bekomme sofort eine Reaktion.“
„Ich bekomme live in der Veranstaltung besser mit, was sich aus den Fragen anderer Studis entwickelt.“
„Ich kann mich zwischendurch kurz mit anderen austauschen, muss dann manchmal gar nicht nachfragen.“
Klingt für mich so, als ob die Präsenz in der Veranstaltung doch noch ein paar Extras hat gegenüber dem Videokonsum. Die Nachteile liegen aber auch auf der Hand: Live in der Vorlesung kann man bei mir vielleicht eine kurze Pause einfordern oder um eine Wiederholung der letzten Erklärung bitten, aber man kann nicht vorspulen, wenn es langweilig wird. 😉
Ich finde es schade, dass die Mehrheit für die „klassische Variante“ gestimmt hat und die Vorlesung wie immer haben wollte. Es ist verschenktes Potential, 50+ Leute zu einer festen Zeit alle an einem Ort zu versammeln und dann etwas zu tun, was auch jeder für sich zuhause machen könnte – abschreiben. Klar, man kann während der Vorlesung Fragen stellen, aber normalerweise ist es so, dass man erst einmal Zeit für sich braucht, um eine Sache wirklich zu durchdringen und DANN kann man ‚wirkliche‘ Fragen stellen (und auch die Antwort verstehen). Ich gehe davon aus, das wäre die Idee bei der zweiten Variante gewesen. Erst einsam einwirken lassen, dann gemeinsam darüber reden. Dies scheint mir auch dem natürlichen Erkenntnisprozess zu entsprechen, bei dem man sich erst selbst mit einer Sache befasst und sich anschließend mit anderen darüber austauscht.
Ich glaube (hoffe) immer noch, dass die zweite Variante die Zukunft sein wird (sowohl in Universität als auch in der Schule)