Wie so oft führte eine interessante Studi-Frage zu einem interessanten Mensa-Gespräch. Was tun wir, wenn wir Mathematik betreiben? Entdecken? Entwickeln? Erfinden? Wenn geschrieben wird, dass Georg Cantor die Mengenlehre erfunden hat, dann klingt das für mich seltsam. „Entdeckt“ klingt aber auch falsch, so als ob er sie fertig irgendwo gefunden hätte. Ach, schau da, Mengenlehre! Wie schön!
Mein Wort dafür wäre „entwickelt“. Er hat Gesetzmäßigkeiten entdeckt und Zusammenhänge, hat dann Begriffe entwickelt und Resultate bewiesen, die schließlich zu einer Theorie wurden. Aber all diese Wörter haben so ihre Tücken. Was heißt eigentlich „beweisen“? Und was sind das eigentlich für Objekte, mit denen wir uns befassen? Ich sage gern so etwas wie „Gruppen in ihrem natürlichen Lebensraum“, aber mir ist noch keine Gruppe auf der Straße begegnet und hat „Hallo!“ gesagt. Ich habe nie daran gezweifelt, dass all diese Objekte, über die ich nachdenke, in gewisser Weise „schon da sind“ und in meiner Vorstellung genau so real, wie es Gegenstände im richtigen Leben sind. Wer weiß überhaupt, was das richtige Leben ist? „Gruppe“ ist für mich genau so real wie „Freundschaft“. Ich kann sie nicht wirklich in die Hand nehmen und mit ihr sprechen oder experimentieren, aber sie ist da. Aber genau so könnte man argumentieren, dass das alles nur Objekte unseres Geistes sind, pure Einbildung, alles Hirngespinste. Wir denken uns quasi die ganze Zeit Quatsch aus und schreiben dann darüber. Tatsächlich könnte man sich fragen: Hat das Nachdenken über Mathematik eine größere Berechtigung, wenn die Mathematik etwas mit dem wirklichen Leben zu tun hat? Wenn sie zum Beispiel für ein Modell verwendet wird oder für einen Algorithmus? Muss sich das, worüber wir nachdenken, in der Realität (was auch immer das heißt) wiederfinden? Gibt es sozusagen „theoretische, abstrakte“ Mathematik und „praktische“, also anwendungsbezogene Mathematik? Ich tue mich damit schwer, das abzugrenzen. Ich mag auch die Unterscheidung zwischen reiner und angewandter Mathematik nicht. Es ist auch schwierig, uns zu verorten – gehören wir zur Geisteswissenschaft? Oder doch eher zur Naturwissenschaft? Sind wir näher an der theoretischen Physik oder der Philosphie, oder vielleicht Informatik?
Harald Lesch hat mal den Begriff der „Strukturwissenschaft“ benutzt, das fand ich gut. Tatsächlich beschreibt das am besten, was ich mache: Ich denke nach. Über Strukturen. Manche sind seltsamer als andere. Manchmal rede ich darüber. Manchmal denke ich etwas und merke dann, dass es dort einen logischen Fehler gibt. Manchmal gibt es Diskussionen, welche Argumente besonders klar oder kurz oder einleuchtend sind. Soll man elementar argumentieren oder einen großen Satz draufwerfen? Wann ist ein Beweis überzeugend?
Aber auf jeden Fall habe ich immer das Gefühl, dass diese Objekte, über die ich nachdenke, wirklich da sind. Ich fühle mich also nicht als Erfinderin, sondern als Entdeckerin. Und ich danke herzlich für die Frage und das Mensa-Gespräch dazu. 🙂