Balance oder Rhythmus?

Was bedeutet eigentlich Work-Life-Balance? Allein schon die Wortschöpfung irritiert mich. Die Gegenüberstellung von Arbeit und Leben erscheint mir nicht ganz passend, weil ich ja auch während der Arbeit lebe. Und die Vorstellung, dass das Leben etwas ist, was nur außerhalb der Arbeitszeit stattfindet, finde ich sogar richtig traurig. Je nach Arbeit haben wir da vielleicht wenig Gestaltungsspielraum und sind sehr fremdbestimmt, aber auch außerhalb der Arbeitszeit gibt es bei vielen Menschen Bereiche, in denen sie nicht allein über ihre Zeit bestimmen können. Das ist zumindst mein Eindruck, wenn ich mir Familien mit Kindern anschaue. Oder?


Was soll da bei der sogenannten „Work-Life-Balance“ ausbalanciert werden? Was denken Sie, welche Assoziationen haben Sie bei dieser Balance? Geht es um Energie? Nach dem Motto: Damit ich außerhalb der Arbeitszeit noch Energie für mich selbst, meine Freund*innen, Familie, Hobbys etc. habe, muss ich mir gut überlegen, wie viele Energie ich bei der Arbeit investiere und wofür. Ok.
Kann man aber auch einfacher haben. Schließlich beginnt jeder Tag mit einem gewissen Energieniveau und der Frage: Wie werde ich heute diese Energie einsetzen, wofür, und was kann ich tun, um Energie zu bekommen? Warum muss ich da zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit unterscheiden? Irgendwie überzeugt mich das nicht. Vielleicht funktioniert das Konzept für Leute, die ihre Arbeit überhaupt nicht mögen.

In meiner Wahrnehmung gibt es eher Rhythmen, so ähnlich wie die Jahreszeiten oder auch Ebbe und Flut. Mal ist das eine wichtiger und nimmt mehr Raum ein, mal das andere. Und dann geht es eben nicht um ein künstliches Ausbalancieren, sondern darum, genau dem Raum zu geben, was gerade dran ist. Allein schon der Wechsel zwischen Vorlesungszeit und vorlesungsfreier Zeit ist dafür verantwortlich, dass die verschiedenen Aspekte meiner Arbeit nicht immer gleich wichtig sind. Lehre und daher regelmäßiger Kontakt zu Studis, Organisation, Sitzungen – das passiert komplett oder hauptsächlich in der Vorlesungszeit. Da muss der Raum für strategische Überlegungen oder tiefes Nachdenken (für die Forschung) wirklich erkämpft und verteidigt werden. Prüfungen finden meistens gebündelt statt, an ein paar Terminen oder auf einige Wochen verteilt. Da ist dann für fast nichts Anderes Raum. Wenn das aber vorbei ist, gibt es mit Glück ein paar Wochen mit wenigen Sitzungen, unregelmäßigem Studikontakt und dafür mehr Zeit zum Nachdenken. Da kann ich dann mal zwei, drei Tage am Stück oder sogar ein, zwei Wochen lang einfach nur über ein Problem nachdenken, vielleicht darüber reden, auf jeden Fall schreiben. Oder eine Vorlesung überarbeiten, ein Skript komplett neu schreiben, neue Übungsaufgaben entwerfen. Aus der Perspektive der Vorlesungszeit, wo es oft um Erreichbarkeit und schnelle Reaktionen geht, sehen ein paar Stunden ohne Unterbrechung wie der reinste Luxus aus. In der vorlesungsfreien Zeit ist das aber die Default-Einstellung. Oder auf Konferenzen: Von morgens bis abends nur Mathe, ganz viel Input, Gespräche mit Kolleg*innen, da wird richtig tief abgetaucht für ein paar Tage, und der Rest der Welt ist weit weg.

Diese Phasen fühlen sich sehr unterschiedlich an, und das wechselt mehrmals im Jahr. Klar könnte ich versuchen, das auszubalancieren und die Bereiche Forschung, Lehre, Organisation, Betreuung und was sonst noch so anliegt immer zu etwa gleichen Teilen zu berücksichtigen, aber das ergibt gar keinen Sinn. Wenn ich stattdessen die „Jahreszeiten“ akzeptiere, kann ich ohne Krampf dem, was gerade dran ist, meine volle Aufmerksamkeit schenken. Vier Wochen mündliche Prüfungen Lineare Algebra: Ist es da sinnvoll, nebenbei an einem schwierigen Forschungsprojekt zu arbeiten oder jeden Abend noch zwei Stunden in anstrengenden Sitzungen zu verbringen? Nein.


Oder würden Sie am gleichen Tag einen Marathon laufen, ein Schachturnier spielen und eine Latein-Klausur schreiben?

Gerade wenn es um geistige Arbeit geht, unterschätzen wir häufig, wie viel Energie und Konzentration das kostet und dass, genau wie bei körperlicher Arbeit, nicht beliebig viel davon zur Verfügung steht. Ab und zu ist Pause angesagt, Ausruhen, Schlafen. Die schwierigste Aufgabe ist vielleicht die, zu akzeptieren, dass nicht alles gleichzeitig geht, dass unsere Ressourcen endlich sind und dass wir entscheiden müssen, wo die Prioritäten liegen. Und genau wie bei körperlicher Leistungsfähigkeit, wo uns allen klar ist, dass man sich „fit halten“ muss, benötigt auch geistige Fitness ein Bewusstsein dafür, was wir tun müssen, um zum richtigen Zeitpunkt genug Energie und Konzentration zu haben. Welche Rhythmen gibt es bei Ihnen? Welche berücksichtigen Sie schon, welche nicht? Spricht Sie eher das Konzept der Balance an oder eher das von verschiedenen Phasen mit verschiedenen Prioritäten?

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