Ein großer blinder Fleck

Eigentlich wollte ich diesen Beitrag mit einem Zitat aus dem Duden beginnen. Ich wollte wissen, wie da „Bestenauslese“ definiert wird. Lustigerweise kennt der Duden das Wort aber nicht, sondern schlägt mir stattdessen „Beerenauslese“ vor. Auch gut.
Dann frage ich halt das digitale Wörterbuch der deutschen Sprache. Dort heißt es „Verwendung im Plural ungebräuchlich“ und weiterhin: „(Grundsatz der) Auswahl der Besten aus einer Bewerbergruppe nach bestimmten Kriterien, vor allem im beruflichen Bereich nach Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung.“

Ja, das passt dazu, wie das Wort oft verwendet wird, denn es liest sich so, als könne man aus einer Menge von Bewerbungen die objektiv am besten geeigneten auswählen. Innerhalb eines gewissen Rahmens geht das sogar, jedenfalls wenn es harte Kriterien gibt wie einen bestimmten Schulabschluss oder eine abgeschlossene Berufsausbildung. Altersgrenzen können hart sein, Sprachkenntnisse, die mit einem Test nachgeprüft werden, das Vorliegen eines Führerscheins, solche Dinge. Ok, in diesem Rahmen komme ich mit dem Wort Bestenauslese klar. Es gibt harte Kriterien, man erfüllt die oder eben nicht, und dann wird ausgewählt, welche Bewerbungen übrigbleiben. Die sind dann von den eingegangenen Bewerbungen am besten geeignet, weil zumindest alle harten Kriterien erfüllt wurden. Überall dort, wo etwas quantitaiv erfasst werden kann und wo es auch tatsächlich Vergleichbarkeit gibt (etwa einschlägige Berufserfahrung in Vollzeit), finde ich das Prinzip vertretbar. Und ich habe auch schon Situationen erlebt, wo man am Ende drei Bewerbungen nebeneinander legt und ganz klar sieht, dass eine davon deutlich besser passt als die anderen beiden. Alles in Ordnung.

Schwierig wird es dann, wenn man es schon eingegrenzt hat. Wann passiert es schon, dass eine Person bei allen relevanten Kriterien objektiv am besten dasteht? Normalerweise ist es doch ein „So, jetzt haben wir zehn Leute in der engeren Auswahl.“ und dann sind die Leute auf verschiedenen relevanten Gebieten unterschiedlich gut, so dass man abwägen muss. Plötzlich ist es nicht mehr so objektiv. Und bei zehn Leuten könnte man sich die Unterlagen noch sehr genau anschauen, man könnte alle zehn persönlich kennenlernen und sich viel Zeit für eine gute Entscheidung nehmen. Bei 50 oder 100 sieht das anders aus. Was macht man, wenn 100 die ersten Hürden schaffen und man nicht nach eindeutigen objektiven Kriterien vergleichen kann? Dann geht es häufig los mit Kennzahlen und Scheinobjektivität. Scheinvergleichbarkeit.

Die Wahrheit ist oft, dass sehr viele von diesen 100 gleich gut geeignet wären, mit unterschiedlichen Stärken und Schwächen, und dass bei der weiteren Auswahl sehr viel Zufall eine Rolle spielt. Das wird dann hinterher gern nachrationalisiert, man hat natürlich soundso entscheiden, weil dasunddas ganz klar absehbar war. Dass das meistens gut ausgeht, liegt daran, dass nach dem ersten Aussieben die Qualität so hoch ist, dass es sehr unwahrscheinlich ist, dass die ausgewählte Person gar nicht passt oder plötzlich doch inkompetent ist.

Viel spannender finde ich jedoch, was drumherum passiert. Auf dem Weg in die Spitzengruppe, in die man nach objektiven Kriterien gehört, passiert nämlich schon sehr viel, was nichts mit Leistungsbereitschaft, Talent oder Fleiß zu tun hat. Interessanterweise spielen in der weichen Phase der Auswahl ähnliche Aspekte eine große Rolle, aber es wird meistens nicht thematisiert, und viele von uns nehmen es gar nicht wahr.

Dieser gesamte Auswahlprozess hat viele blinde Flecken. Oder anders gesagt: Um überhaupt in den Auswahltopf zu kommen, muss man vorher schon sehr viele Privilegien genossen haben, die längst nicht alle Menschen haben. Es ist also gut möglich, dass im „Bestenauslese“-Topf ganz viele gar nicht vorkommen, die es aber verdient hätten. Ein Problem dabei ist, dass wir unser Urteil oft aufgrund von Leistungen fällen, die in einem relativ kleinen Zeitfenster erbracht wurden. Zum Beispiel die Zeit während der Promotion und noch ein paar Jahre danach. Bei einer so kurzen Zeitspanne spielen die Lebensumstände eine wichtige Rolle, wen man so kennt, gute Startchancen aufgrund eines guten familiären Hintergrunds, Glück oder Pech bei Themen, bei Vortragsmöglichkeiten, bei Begutachtungen.

Unter Umständen geht also sehr viel Potential verloren, weil in den entscheidenden Jahren die Lebensumstände eben nicht so sind, dass die volle Leistungsfähigkeit zum Tragen kommt. Eine Sensibilisierung dafür könnte uns auch dabei helfen, in der weichen Auswahlphase aufmerksamer für Kleinigkeiten zu sein, und gleichzeitig transparenter bei der Frage, worauf wir eigentlich Wert legen. Momentan sehe ich da viel „mehr vom Gleichen“ und ein Weitertragen von Narrativen, bei denen auch der eigene Werdegang im Rückblick glorifiziert wird. Dabei ist es zur Ergänzung eines vorhandenen Teams oft viel sinnvoller, Menschen mit einem anderen Werdegang, einem anderen familiären Hintergrund oder auch einem anderen Bildungsweg auszuwählen, denn sonst bekommt man nur immer mehr von der gleichen Perspektive.
Wie lernt man denn dann Neues?

Mir scheint es purer Zufall zu sein, ob Abweichungen von einer gewissen Norm als positiv oder negativ gewertet werden. Ein unbeholfenes Sozialverhalten hat nichts mit wissenschaftlicher Eignung zu tun, aber es reicht, wenn ein, zwei Leute in einer Auswahlkommission das unangenehm finden und Wert auf glatte Umgangsformen legen (und es oft genug und laut genug sagen), damit die Stimmung kippt und man nicht weiter berücksichtigt wird. Gibt es in der Forschung einen Mainstream? Wer beurteilt, ob es gut ist, dem zu folgen, oder ob man lieber etwas frischen Wind haben möchte? Wer entscheidet, ob man ein kritischer Geist ist oder
eine Querulantin? Sind die innovativen Lehrmethoden ein guter neuer Impuls oder lehnen das Leute ab, weil „wir das ja hier so noch nie gemacht haben“?

Der blinde Fleck greift bei der eigenen Privilegierung und bei der Beurteilung derjenigen Personen, die wir am Ende für am besten geeignet halten. Das Aufwachsen auf dem Land, vielleicht noch mit wenig Geld, kann schon reichen als Grund dafür, gewisse Möglichkeiten und Angebote nicht zu haben, vielleicht gar nicht erst den Sprung auf ein Gymnasium zu schaffen. Ein starker Dialekt im Elternhaus kann dazu führen, dass man für dumm gehalten oder nicht ernst genommen wird, wenn man sich mündlich äußert. Eine eingeschränkte Mobilität, evtl. unsichtbar oder zumindest nicht als körperliche Behinderung wahrnehmbar, kann schon reichen, damit alles etwas langsamer geht, man nicht so gesund und sportlich wirkt
wie die Konkurrenz. Ein zurückhaltendes Wesen kann missverstanden werden, so als hätte man nichts zu sagen, keine Ambitionen, wolle sich nicht einbringen. Ob Unordentlichkeit und Unpünktlichkeit als Ausschlusskriterium eingeschätzt werden oder ob es dann heißt „Ist halt ein Genie!“, ist Glückssache. Die Ratschläge, die man bekommt beim Coaching zum „Vorsingen“, sind in dieser Hinsicht oft widersprüchlich.
Ist ja auch klar, denn die Erwartungen sind widersprüchlich!

Auf dem langen Weg hin zu einem Studienabschluss, einer Promotion, evtl. noch einer erfolgreichen PostDoc-Phase, spielt so viel mehr eine Rolle als wissenschaftliche Eignung! Klugheit, Fleiß, Zielstrebigkeit, Kreativität allein machen es nicht, es stimmt einfach nicht, dass es alle schaffen können, wenn sie nur Talent haben und sich anstrengen. Nicht mal bis in den Pool derer, aus denen dann die Besten ausgewählt werden, schafft man es damit.
Natürlich spielt Glück eine Rolle.
Timing.
Das Elternhaus.
Die Schule.
Geld.

Vielleicht bleibt es einfach so, dass auf dem Weg in den Pool für die Bestenauslese schon ganz viel Potential verloren geht. Vielleicht haben wir nicht genug gute Ideen, um da etwas zu verändern. Aber dann sollten wir wenigstens ehrlich sein und mal auf die blinden Flecken in unserem eigenen Erfolgsnarrativ schauen, und wir sollten mit mehr Sensibilität und Ehrlichkeit argumentieren, wenn wir im kleinen Pool der am besten geeigneten Personen angekommen sind und es wirklich nicht mehr um objektive Kriterien geht. Statt „best fit“ plädiere ich für Mut und „best add“.
Und hier ist noch mehr Lesestoff dazu.

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