Es ist leicht, tolerant zu sein, wenn man sich mit lauter Menschen umgibt, die sowieso genau so ticken wie man selbst.
Bevor wir aber dazu kommen, wie man seine eigene Toleranz wirklich testen kann, um zu spüren, wie weit sie trägt, ist doch die Frage, was wir unter Toleranz verstehen.
Was bedeutet der Begriff für Sie?
Verständnis?
Respekt gegenüber anderen Meinungen?
Alle Menschen gleich zu behandeln?
Das digitale Wörterbuch der deutschen Sprache listet drei Bedeutungen des Wortes Toleranz:
- Duldsamkeit. Hier geht es also darum, geduldig damit umzugehen, wenn etwas oder jemand stört oder von der Norm abweicht.
- Zulässige Abweichung von einem verbindlichen, vorgeschriebenen Maß oder Wert. Hier hatte ich sofort die industrielle Fertigung von Gegenständen im Kopf und die Qualitätskontrolle. Außerdem kam mir das Wort Fehlertoleranz in den Sinn.
- Physische Widerstandsfähigkeit, besonders gegen Arzneimittel. Das ist eine medizinische Perspektive, die mich etwas erstaunt, weil ich Toleranz nicht mit Widerstandsfähigkeit assoziiere. Gleichzeitig klingt eine Aussage wie „Mein Körper toleriert große Mengen der Substanz … ohne Vergiftungserscheinungen.“ einigermaßen stimmig.
So, da haben wir drei sehr verschiedene Sichtweisen auf den Begriff der Toleranz, und mich beschäftigt gerade am ehesten die erste. Tatsächlich fühlt sich gelebte Toleranz nämlich so an, als ob ständig, jeden Tag, meine Geduld und Selbstbeherrschung auf die Probe gestellt werden. Vielleicht geht es um die grundsätzliche politische Haltung, vielleicht um den Umgang mit Sexismus oder Vorurteilen, vielleicht darum, ob und wie wir Regeln befolgen sollten, oder wie wir mit Autorität umgehen. Der Umgang mit der Pandemie, die Maßnahmen, das Verhalten verschiedener Personengruppen – all das hat vielen von uns auch Geduld und Toleranz abverlangt.
Es ist sehr leicht, von Toleranz zu sprechen, wenn sie nie auf die Probe gestellt wird. Es ist leicht, sich für vorurteilsfrei und tolerant zu halten, wenn die eigene Haltung nie herausgefordert wird. Seit Beginn der Pandemie spüre ich stärker als vielleicht jemals zuvor, wo Gräben verlaufen und wo es auch in meinem unmittelbaen Umfeld Menschen gibt, die zumindest bei einzelnen Themen komplett anders ticken als ich. Damit jeden Tag umzugehen ist wahnsinnig anstrengend. Es erfordert ein hohes Maß an Geduld und an Beherrschung. Immer wieder halte ich inne, atme tief durch und reagiere nicht spontan, denn die spontane Reaktion wäre manchmal einfach ein „Geht’s noch?“
Manchmal sage ich gar nichts.
Manchmal stelle ich eine Frage.
Manchmal wechsle ich das Thema.
Gehe bei nächster Gelegenheit aus der Situation raus, denn eine unbedachte Äußerung könnte einen Gesprächskanal für lange Zeit schließen.
Mir ist klar, dass manchmal offener Widerspruch nötig ist. Aber wenn beide Seiten wissen, wo sie stehen, dann kann man auch die Klappe halten.
Dann müsste schon eine echte Einladung zum Gespräch kommen, mit der Bereitschaft, wirklich zuzuhören und den eigenen Standpunkt zu hinterfragen. Sonst wird daraus schnell eine Diskussion, bei der beide Seiten einfach nur Recht haben wollen, aber nicht bereit sind, die eigene Haltung zu hinterfragen. Toleranz heißt, auszuhalten, dass andere eben nicht die eigene Meinung annehmen. Egal, wie oft, wie eloquent, wie laut man sie äußert. Es heißt, geduldig abzuwarten, ob es Bewegung gibt. Ob man Neugier spürt, die andere Position besser zu verstehen. Ob man sich annähern kann. Es heißt, die andere Person nicht verändern zu wollen. Und wenn man mit der Haltung der anderen Person überhaupt nicht einverstanden ist und sie gar nicht nachvollziehen kann, dann ist das eben schwierig. Jeden Tag.
Ich bin dankbar dafür, solche Menschen um mich herum zu haben. Klar fluche ich auch manchmal und ärgere mich, aber wir müssen doch auch ab und zu mal unsere Charakterstärke testen, oder? Und wie geht das besser als mit Menschen, die uns zeigen, ob wir so tolerant sind, wie wir denken?