Fangen wir mit einem Erinnerungsspiel an.
Was für Kleidung haben Sie gestern getragen?
Was für warme Mahlzeiten haben Sie in den letzten drei Tagen gegessen?
Wo waren Sie letztes Jahr im Urlaub?
Von wie vielen Lehrer*innen aus der Schulzeit fallen Ihnen noch die Namen ein?
Erinnern Sie sich an die erste Klassenfahrt, einen besonderen Geburtstag als Kind, die Gesichter Ihrer Großeltern?
Wie Ihr Kinderzimmer aussah (falls Sie ein eigenes Zimmer hatten)?
Wenn man Sie nicht direkt fragt, wie werden dann manchmal Erinnerungen ausgelöst? Durch Musik? Geräusche? Gerüche? Bilder?
So, jetzt sind wir aufgewärmt und ich kann ein paar Anlässe nennen, die mich auf das Thema gebracht haben. Da sind einerseits Gespräche mit meinen Geschwistern und mit anderen Eltern, in denen es darum geht, wie man als Familie gemeinsame Erinnerungen schafft. Was sind jetzt die Momente, die dann später Kindheitserinnerungen werden? Was wird bei den Kindern nachhaltig im Gedächtnis bleiben? Dann ist da, andererseits, meine eigene Auseinandersetzung mit den letzten 20-25 Jahren meines Lebens. Wenn ich jetzt die Sachen meines verstorbenen Mannes durchsehe, dann geht es nicht nur um ihn, sondern oft auch um ganz viel gemeinsame Geschichte, und ich finde auch eigene alte Unterlagen oder Erinnerungsstücke. Es ist interessant, zu sehen, wo meine Erinnerung noch ganz klar ist und wo ich überrascht bin, was ich da so finde.
Zum Beispiel kann ich mich noch daran erinnern, dass ich bei meiner ersten Vordiplomsprüfung nervös war. Nervöser als sonst, vorher, in der Schule oder so. Ich wusste aber nicht mehr, dass ich tagelang kaum essen und schlafen konnte und dass das bei allen Vordiplomsprüfungen so war. Ohne Aufzeichnungen (Briefe etc.) hätte ich das einfach vergessen. Ich konnte mich auch nicht mehr daran erinnern, wie voll manche meiner Semester waren – nicht nur mit vielen Lehrveranstaltungen, sondern auch mit Arbeit, Sport und anderen Aktivitäten.
Die erste Wohnung, die mein Mann (damals Freund) und ich zusammen ausgesucht haben.
Seine Jobs, meine Jobs.
Zeiten mit wenig Geld, Zeiten, wo wir gut klargekommen sind.
Korrespondenz mit der Studienstiftung.
Der Umzug nach England.
Die Fernbeziehung.
Spannend finde ich, wie sich jetzt gerade neu sortiert, wie manche Erinnerungen gefärbt sind. So viel in meinem Leben ist so klar mit meinem Mann verbunden, quasi untrennbar, und daher sind sehr viele Erinnerungen schmerzhaft. Aber: Nicht-Erinnern ist auch keine Option!
Daher probiere ich aus, wie ich allein oder gemeinsam mit anderen Menschen neue Erinnerungen schaffen kann. Die alten, die so stark mit meinem Mann verbunden sind, sollen nicht gelöscht oder überschrieben werden, sondern angereichert.
Und das funktioniert.
Daher frage ich mich, ob dieses Prinzip auch anderswo hilfreich sein kann.
Wenn jemand zum Beispiel vermeintlich immer nur schlechte Erfahrungen mit Prüfungen gemacht hat und dementsprechende Erinnerungen hat, dann sind meine ersten Fragen:
Stimmt das so?
Ohne Ausnahme?
Gab es doch vielleicht ein paar andere Erfahrungen, und die Erinnerung ist nur verblasst? Wie können neue Situationen entstehen, neue Erinnerungen, die die alten anreichern und ein vielfältigeres Bild erzeugen? Wie können wir den Umgang mit den Erinnerungen so verändern, dass wir nicht mehr das Gefühl haben, unsere Erfahrungen würden einem Naturgesetz folgen?
Wenn eine mündliche Prüfung richtig schlecht läuft und ich befürchte, dass die Person danach nicht nur mit einem sehr schlechten Gefühl rausgeht, sondern dass sich zum Beispiel eine schon bestehende Prüfungsangst verstärkt, dann schaue ich, ob es Raum für ein Gespräch gibt. Nach dem Motto: Durchgefallen, aber wir reden jetzt noch ein paar Minuten weiter und lernen gemeinsam, dass die Welt nicht untergeht und dass es trotz Angst, Tränen, Enttäuschung, Stress etc. noch möglich ist, ein Gespräch zu führen und sogar noch etwas Wissen abzufragen.
Manchmal klappt das, manchmal hilft es.
Ein anderes Thema sind lokale Krisen, z.B. ein verspäteter Zug, Stau, ein kurzfristig abgesagter Termin, ein misslungenes Essen, eine Urlaubsplanung, die nicht zum Wetter passt. Manchmal kann man gar nix dafür. Aber welche Erinnerung bleibt? Der Ärger über den verspäteten Zug?
Oder das Bild vom gut gelaunten Schaffner, der durch den Zug läuft mit Informationen und ein paar Sprüchen, so dass am Ende der halbe Wagen laut lacht?
Meckert man rum, dass die Freilufttheateraufführung ins Wasser fällt, oder wird das eine gute Geschichte, bei der sich alle bildlich vorstellen, wie man da völlig durchnässt sitzt und trotzdem stoisch Shakespeares Worten lauscht?
Wir entscheiden mit, wie wir uns erinnern. Hiermit fordere ich Sie heraus, sich bei der nächsten Schwierigkeit oder beim nächsten Ärgernis einfach mal zu fragen, ob das nicht vielleicht später eine gute Geschichte wird oder inwiefern die Erinnerung daran später mal wichtig sein könnte. Was für Optionen gibt es, was könnte in der Erinnerung betont werden? Und welche Gelegenheit sollten Sie sich nicht entgehen lassen, weil das später eine ganz tolle Erinnerung wird?