Im Herbst 2021 ist es mal wieder so weit: Die neuen Studis starten und ich darf die Vorlesung „Lineare Algebra“ halten. Es ist besonders spannend und jedes Mal eine Herausforderung, die Studis bei ihren ersten Schritten in die Mathematik hinein zu begleiten. Dabei passiert es jedes Mal, wenn auch unterschiedlich stark und unterschiedlich oft, dass Studis von dem neuen Stoff und den Herausforderungen einer anderen Arbeitsweise so überfordert und frustriert sind, dass sie wütend oder verzeifelt werden, sich unfair behandelt fühlen, vielleicht sogar das Studium aufgeben wollen. Manche erleben zum ersten Mal, dass sie eine Aufgabe nicht lösen können oder dass sie durch eine Klausur fallen.
Jedes Mal frage ich mich, wie es dazu kommt und was ich tun kann, um 1. vor diesem Effekt zu warnen und 2. dabei zu unterstützen, damit umzugehen.
Als ich in den letzten Tagen durch den Schnee gestapft bin, kam mir die Idee, solche Probleme auf dem Lebensweg mit ganz normalen Problemen bei der Fortbewegung zu vergleichen. Wenn ich mein ganzes Leben lang in Flip-Flops durch die Welt gelaufen bin und immer einen halbwegs sauberen Untergrund ohne viele Hindernisse vorgefunden habe, dann laufe ich halt los, gucke nicht so genau hin und bin daran gewöhnt, ohne große Anstrengung überall hin zu kommen. Ich kenne weder Schnee noch Pfützen, Schlammlöcher oder steinigen, löchrigen Untergrund. Wenn mir dann also der Schnee bis zur Hüfte reicht, stehe ich da mit meinen Flip-Flops und habe kalte Füße und schlechte Laune. Der Schnee ist nicht gefallen, um mich zu ärgern, aber trotzdem nehme ich das persönlich und denke mir „Wieso liegt der da, ich möchte da doch langlaufen, und sonst war der Weg doch auch immer eben und ich hatte warme Füße. Was soll das? Das ist nicht fair!“ Neben mir stapfen Menschen mit großen Winter- oder Gummstiefeln durch den Schnee. Es sieht sehr anstrengend aus. Sollte ich auch einfach losstapfen? Oder abwarten, in der Hoffnung, dass alles wegschmilzt oder mir jemand den Weg freiräumt?
Irgendwie ist es doch beneidenswert, so aufzuwachsen. In Flip-Flops, immer auf bequemen Straßen unterwegs oder zumindest auf Gras oder so, ohne Hindernisse. Vielleicht gibt es auch mal unwegsames Gelände, aber dann kommt jemand mit dem Helikopter. (Na, wer von Ihnen hat solche Eltern? Die im Zweifel einspringen und sich kümmern und alles regeln? Ich nicht, und das ist vielleicht auch ganz gut so.) Was passiert, wenn dann mal kein Helikopter kommt? Wenn wir schon Erfahrung mit steinigem Gelände oder Schlammlöchern haben, dann haben wir die entsprechende Kondition, sind geübt, haben vielleicht sogar passendes Schuhwerk dabei. Wanderschuhe oder Gummistiefel. Die Flip-Flops sind leicht und sollten unbedingt mit dabei sein, gut verstaut im Gepäck, für die sonnigen Tage auf einer grünen Wiese oder am Strand. Aber sie sollten nicht das einizige Schuhwerksein. Es ist einfach nicht realistisch, zu erwarten, dass wir immer nur auf gut ausgebauten Straßen unterwegs sind! Vielleicht möchten wir eine Abkürzung nehmen, oder wir treffen unterwegs interessante Leute und gehen einen Umweg, um uns länger mit ihnen unterhalten zu können. Wollen wir wirklich bei jeder kleinen Abweichung sagen „Oh, nein, da kann ich nicht langlaufen, ich hab nicht die passenden Schuhe an!“?
Wenn es also nicht so läuft wie erwartet, oder wie geplant, was dann? Stehenbleiben? Abwarten? Vielleicht, um eine Pause zu machen, sich umzuschauen, nachzudenken, wie es weitergehen könnte. Oder um die Schuhe zu wechseln. Aber nicht hilflos, passiv, sondern mit dem Ziel, weiterzulaufen. Vielleicht ist ein Umweg nötig, vielleicht macht der nächste Teil des Weges in Gesellschaft mehr Spaß. Aber im Zweifel: Gummistiefel an und los!