Welche Rituale haben Sie?
Täglich, jede Woche, jedes Jahr? Allein?
Oder mit jemandem?
Freund:innen, Familie, Lebenspartner:in?
Sind Rituale und Gewohnheiten für Sie dasselbe?
Welche Rituale sind schon so alt, dass Sie sich gar nicht mehr daran erinnern, wie sie entstanden sind?
Ich habe beim Nachdenken festgestellt, dass ich viele Gewohnheiten habe, die als Rituale angefangen haben. Ein Ritual ist dabei für mich eine Tätigkeit, die mit einer Bedeutung versehen ist, die über die eigentliche Tätigkeit hinausgeht. Deswegen ist z.B. Zähneputzen kein Ritual, sondern einfach eine Angwohnheit. Manches liegt irgendwo dazwischen. Eins meiner Lieblingsbeispiele ist mein Sport- und Yogaprogramm, speziell die Liegestütze. Bevor ich aber mit den Liegestützen anfange: Das tägliche Yoga ist tatsächlich keine Gewohnheit, sondern ein Ritual. Jedes Mal, wenn ich auf die Matte gehe, feiere ich es für einen kleinen Moment ganz bewusst, dass ich mir jetzt Zeit für mich selbst nehme und in einen freundlichen inneren Dialog trete. Anders als bei Kraftübungen geht es nicht um „push and work harder“, sondern um „find your edge and be kind to yourself“.
Jetzt kommen aber die Liegestütze. Die sind spannend, weil ich durch sie so viel über mich gelernt habe. Vor über zwei Jahren habe ich damit angefangen, jeden Tag Liegestütze zu machen. Dabei war das Ziel, insgesamt 10 tiefe Liegestütze in guter Form zu machen, nacheinander, ohne Pause. Das hat zu Beginn nicht geklappt, also habe ich mich langsam vorgearbeitet und habe einfach nur jeden Tag 10 Stück gemacht. Jeden Tag gab es eine Strichliste. Mal zwei nacheinander, mal drei. Ich habe die Liegestütze sehr bewusst gemacht und jeden Tag innerlich ein bisschen gefeiert, denn es ging um mehr als die Liegestütze. Es ging um eine kleine Aufgabe, eine kleine Herausforderung, bei der ich dranbleiben und jeden Tag etwas besser werden wollte. Insofern war das eher ein Ritual als einfach nur eine Gewohnheit – diese wenigen Liegestütze waren mit Bedeutung aufgeladen und ich war sehr stolz darauf, dass die Liste an Tagen mit 10 Liegestützen immer länger wurde, ohne Unterbrechung. Mit der Zeit konnte ich immer mehr nacheinander machen, so dass langsam eine Gewohnheit daraus wurde: jeden Tag zwei Mal fünf Stück. Ich habe keine Strichliste mehr geführt, aber irgendwann geschaut, ob noch Luft nach oben ist. Schaffe ich zwei Mal sechs? Oder drei Mal fünf? Oder einfach zehn am Stück?
Es ging also um mehr, es war eben doch keine Angewohnheit wie Zähneputzen. Im Gegenteil: Mit den Variationen und der „Luft nach oben“ überwog wieder der Ritualcharakter, denn es ging darum, das alte Ziel durch ein neues zu ersetzen und dabei nicht zu schnell zu ehrgeizig zu werden. Zum Vergleich: Ich hatte vor Jahren mal ein Sportprogramm, in dem insgesamt 90 Liegestütze vorkamen. Dahin komme ich so schnell nicht wieder, und wenn die Ziele sich zu schnell verändern, wächst die Gefahr, unterwegs aufzugeben. Also kam als nächstes Zwischenziel 15. Zuerst regelmäßig drei Mal fünf, dann irgendwann 15 am Stück.
Inzwischen sind es 20 am Stück. Jeden Tag. Manchmal mache ich ein Ganzkörpertraining, in dem Liegestütze vorkommen, und dann sind es auch mal 30 oder 50. Vor allem aber spiele ich mit Varianten und damit, wie viel Luft nach oben ist. 25 Stück? Beim Schreiben merke ich, dass die Liegestütze sich wie eine nicht-verhandelbare Gewohnheit anfühlen, dass sie einfach jeden Tag dazugehören und dass sie immer noch ein wenig Ritualcharakter haben. Denn sie bedeuten für mich mehr als körperliches Training. Sie sind der Beweis dafür, dass kleine tägliche Trainingsziele über die Zeit einen großen Effekt bewirken. Kleine Rituale entfalten große Wirkung, einfach durch Akkumulation.
Deswegen fordere ich Sie auf, Ihre Gewohnheiten zu hinterfragen daraufhin, welchen langfristigen Effekt sie haben. In welche Richtung bewegen Sie sich? Mit kleinen Schritten kommen Sie auch vom Fleck, wenn auch langsam. Wo stimmt die Richtung? Wo nicht?
Welche Angewohnheiten möchten Sie ändern?
Welche Gewohnheiten sind eher Rituale?
Woher kommt die zusätzliche Bedeutung?
Werden Sie durch Ihre Gewohnheiten immer mehr zu der Person, die Sie sein wollen?
Oder entfernen Sie sich von ihr?