Das Thema schwirrt mir schon länger im Hinterkopf herum. Ganz zum Schluss werde ich das Zitat hinschreiben, von dem ich denke, dass es mich inspiriert hat, endlich mal etwas dazu aufzuschreiben. Die Gemengelage ist ungefähr so: Je nachdem, wen man fragt oder was man liest, sollen wir …
… uns möglichst breit bilden und mehrere Talente entwickeln,
… uns möglichst stark spezialisieren,
… bei der Berufswahl einem Interesse oder einer Leidenschaft folgen,
… bei der Berufswahl praktisch denken und Leidenschaften lieber in Hobbys ausleben,
… möglichst die ganze Zeit nur Dinge tun, bei denen wir uns wohlfühlen,
… immer mal wieder die Komfortzone verlassen,
… Dinge tun, zu denen wir motiviert sind,
… Gewohnheiten etablieren und Motivation durch kleine Erfolge erzeugen,
… uns ständig Ziele setzen,
… uns nicht an Zielen orientieren, sondern daran, wer wir sein wollen,
… uns vergleichen, als Ansporn, um besser zu werden,
… uns nicht vergleichen, weil das unglücklich macht,
… ständig neue Dinge lernen,
… ein paar spezielle Fähigkeiten entwickeln und es dabei zu außergewöhnlichem Können bringen.
Alles klar, oder?
Ganz ehrlich, ich weiß es auch nicht.
Wenn es darum geht, was wir beruflich machen wollen, oder wie wir überhaupt unsere Lebenszeit verbringen, dann sehe ich so viele unterschiedliche Erfolgsmodelle (und Möglichkeiten, zu scheitern), dass ich einfach nicht an allgemein gültige Ratschläge glaube, die für alle passen. Ich denke übrigens auch nicht, dass man nur in einem einzigen Beruf ausgefüllt und glücklich werden kann und dass man mit 15 oder 20 schon wissen muss, welcher Beruf das ist. Wenn überhaupt, dann denke ich grundsätzlich eher in der Kategorie „Was kann/weiß ich und wo kann ich das gut einsetzen?“ als in der Kategorie „Was will ich erreichen?“. Diese Haltung fühlt sich für mich natürlicher an und hat einen Nebeneffekt, den ich seit ein paar Jahren beobachte: Superkräfte bei anderen Leuten wahrnehmen.
Das passiert nicht immer, oft nicht geplant, sondern manchmal kommen in Gesprächen oder bei Veranstaltungen diese Momente, in denen ich plötzlich denke „Wow, diese Person kann unheimlich gut…“ Das kann die Fähigkeit sein, einen Denkfehler zu analysieren, die Fähigkeit, ein anschauliches Beispiel zu finden, die Fähigkeit, eine unsichere Person zu ermutigen und stark zu machen, die Fähigkeit, Streit zu schlichten, zuzuhören, zu trösten, erstaunliche Dinge auszutüfteln und zu basteln, Kinder zu beruhigen, mit Tieren zu arbeiten, grafische Oberflächen zu entwerfen,…
Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass man manchmal selbst nicht mitbekommt, dass man etwas besonders gut kann. Wir reflektieren unser Verhalten nicht ständig und da fällt es nicht auf, dass man zum Beispiel gerade eine Hammerskizze an die Tafel gezaubert hat. (Nein, das war nicht ich!) Man denkt vielleicht „Wieso, kann doch jeder mal eben was an die Tafel kritzeln.“ Was ich daraus gelernt habe, ist, dass ich öfter mal anspreche, wenn mir so etwas auffällt. Dann bekommen Studis oder Kolleg:innen Rückmeldungen nach dem Motto „Du hast heute im Tutorium super Beispiele ausgesucht, dafür hast Du wirklich ein Händchen.“ oder „Sie stellen wirklich tolle Fragen in der Vorlesung.“ oder „Ich habe noch nie gesehen, dass jemand sich so durchbeißt und nach zwei Fehlversuchen so eine gute Prüfung hinlegt.“ oder „Das war die beste Sitzungsleitung, die ich je in dieser Runde erlebt habe.“
Vielleicht war nämlich der Tutorin nicht klar, dass nicht alle so treffsicher gute Beispiele aussuchen, der Student dachte nicht, dass seine Fragen besonders wertvoll sind, die Studentin fühlte sich wegen der Fehlversuche als Versagerin und dem Kollegen war nicht klar, dass gute Sitzungsleitung nicht vom Himmel fällt und dass es wirklich auffällt, wenn jemand da Geschick hat. Manchmal sind es Momentaufnahmen, und manchmal habe ich den Eindruck, dass ich da eine in der Person schlummernde Superkraft sehe. Die Reaktion zeigt normalerweise, ob die Person sich der Wirkung bewusst ist – manchmal kommt „Oh ja, ich weiß, das wurde mir in der Schule schon immer gesagt.“ Aber ganz oft eben auch nicht. Und genau wie ich ein großes Faible für tief schlummernde Fragen oder Denkfehler habe, so finde ich auch unerkannte Superkräfte ganz großartig. Vor allem bei angehenden Lehrer:innen macht es mir großen Spaß, nach solchen Superkräften Ausschau zu halten und anzusprechen, was mir auffällt. Selbst wenn die Person das nicht als Superkraft wahrnimmt, wird der Blick auf etwas Besonderes gelenkt, auf eine besondere Fähigkeit oder eine besondere Sicht auf die Welt. Man muss das gar nicht ständig betonen, aber sollte es ab und zu innerlich ein bisschen feiern und auch nach außen tragen, denn es macht das Leben viel interessanter, wenn wir nicht alle die gleichen langweiligen Ratgeber lesen und dann die gleichen fünf Tipps befolgen, mit denen wir garantiert erfolgreich sind – unabhängig von unseren Erfahrungen und unseren ganz eigenen Superkräften.
Das Zitat, das mich ermutigt hat, über Superkräfte zu schreiben, ist dieses (Elizabeth Gilbert): „What do you love doing so much that the words failure and success essentially become irrelevant?“
Ich habe schon gesehen, wenn Menschen in genau diesem Zustand agiert haben, und da waren sie oft mitten in ihrem Element mit ihrer Superkraft. Es ist einfach toll, das zu sehen.
Was für Superkräfte sehen Sie bei sich selbst und bei anderen?