Hier ist das Zitat:
„Jedes Leben hat ein Maß an Leid. Manchmal bewirkt eben dieses unser Erwachen.“
Da steckt viel drin. Ich möchte mit dem ersten Satz beginnen und der Frage, was Leid ist. Was ist es für Sie?
Reicht es, ein bisschen hungrig zu sein, müde, genervt von irgend etwas? Oder verwenden Sie das Wort „Leid“ erst, wenn es Ihnen richtig schlecht geht? Z.B. wegen einer heftigen Erkältung? Generell bei körperlichen Beschwerden? Bei Liebeskummer, Heimweh, Streit mit jemandem? Bei einem persönlichen Unglücksfall (Unfall, Wasserschaden, sowas), beim Verlust eines geliebten Menschen? Haben Sie Gewalt erlebt, Krieg, Naturkatastrophen?
Es gibt viel Spielraum, und es ist sehr unterschiedlich, worunter wir leiden. Der erste Liebeskummer war vielleicht so schlimm, dass Sie dachten, er würde nie vorbeigehen. Nichts würde jemals wieder so schlimm und so schmerzhaft sein. Bei einer heftigen Krankheit vergessen wir, wie es sich anfühlt, wenn wir körperlich gesund sind. Ein Konflikt kann sich in dem Moment ganz schlimm und unlösbar anfühlen, und am nächsten Tag fragt man sich, wo eigentlich das Problem war. Jedes Mal, wenn ich Kopfschmerzen habe oder Muskelkater, dann empfinde ich ganz bewusste Wertschätzung für die Abwesenheit solcher Schmerzen. An jedem Tag, an dem ich keine Schmerzen habe, feiere ich meinen gesunden Körper und bedanke mich bei ihm. Leid macht die Abwesenheit von Leid spürbar, oder rückt sie jedenfalls stärker in mein Bewusstsein.
Beim ersten Satz kommen mir noch mehr Gedanken, nämlich zum Beispiel, dass wir das „Maß an Leid“ im Leben anderer Menschen nicht einschätzen können. Manchmal können wir es nachfühlen.
Wie schätzen Sie das bei sich selbst ein?
An welche Art von Leid denken Sie, und wann haben Sie es erlebt?
Welche Lebensphasen waren besonders davon geprägt?
Haben Sie vor diesem Hintergrund manchmal andere Menschen beneidet?
Nach dem Motto „Ich leide und die haben es so leicht.“?
Oder haben Sie umgekehrt erlebt, dass andere Menschen unglaublich viel aushalten und Sie sich fragen, wie die das machen?
Ich kenne beides und verweise für meinen Umgang mit diesen Gefühlen auf meine Texte zu Akzeptanz. Das ist nach wie vor das beste Rezept, das ich kenne, und ich übe jeden Tag. Auch beim Umgang mit meinem eigenen Leid hilft mir das am meisten. Wahrnehmen, akzeptieren, irgendwie weitermachen.
Wie ist das nun mit dem „Erwachen“ zu verstehen? Vielleicht ist es ganz banal, wie oben schon angedeutet. Manchmal müssen wir das Gegenteil von etwas erleben, um das Ursprüngliche wahrzunehmen. Man leidet vorübergehend an Schlafstörungen und merkt plötzlich, was für ein Privileg es war, die nicht zu haben. Man genießt Schmerzfreiheit mehr, wenn man starke Schmerzen kennt. Man verarbeitet ein Trauma und entdeckt in sich eine Stärke, die man vorher nicht gespürt hat. Oder auch, dass es schön sein kann, verletzlich zu sein und dann gehalten und getröstet zu werden. So möchte ich das „Erwachen“ für mich interpretieren. Als Möglichkeit, dass sich etwas klärt, dass man etwas Neues an sich entdeckt. Ich habe durch Leid viel über mich gelernt und bin dafür dankbar.
Was haben Sie durch Leid gelernt?
Wann hat gerade das Leiden zu einem „Erwachen“ geführt in dem Sinne, dass Sie ohne die Leidenserfahrung vielleicht gewisse Erfahrungen nicht gemacht hätten oder gewisse Entscheidungen nicht getroffen hätten? Zur Akzeptanz gehört auch das. Es mindert das Leid vielleicht nicht, es gibt vielleicht kein „Da steckt ja auch was Gutes drin.“ Aber vielleicht wird etwas klar. Vielleicht lernen wir etwas Neues über uns selbst.