Diversität und Differenzierung im Fremdsprachenunterricht

Unterrichtsvorschläge für einen diversitätssensiblen und mediengestützten Fremdsprachenunterricht

Demander le chemin en ville – ASS

Unterrichtsreihe

Diversitätsmerkmal

Unterrichtsstunde

Material und Literatur

Unterrichsreihe

Der folgende Unterrichtsvorschlag wurde für den Französischunterricht einer 7. Klasse im 1. Lernjahr der zweiten Fremdsprache erarbeitet. Die geplante Unterrichtsstunde leistet einen Beitrag zur Kompetenzentwicklung der SuS laut Fachlehrplan Französisch des Ministeriums für Bildung des Landes Sachsen-Anhalt (vgl. 2022: 9) in den Schuljahrgängen 7/8 im Bereich « Géographie », speziell « vivre dans une grande ville », mit den kommunikativen Absichten des Gebens und Einholens von Auskünften, hier Wegbeschreibungen. Weiterhin unterstützt die Unterrichtsstunde gemäß dem Fachlehrplan die Erweiterung der Grammatikkenntnisse, hier die Anwendung des Imperativs (vgl. ebd.), und die Fähigkeit des Buchstabierens von Wörtern nach dem französischen Alphabet, hier von Namen und Straßennamen (vgl. ebd.: 10).

Die 90-minütige Unterrichtsstunde ist Teil einer mehrwöchigen Unterrichtsreihe unter dem Titel « Une ville intéressante ». Ziel dieser Unterrichtsreihe ist, dass die SuS zum Abschluss eine selbstgewählte Stadt präsentieren. Es wird empfohlen, den SuS freizustellen, ob die Präsentation (z. B. als Stadtrundgang) digital (z. B. in Form einer vertonten PPP oder eines Blogs) oder real (z. B. in Form eines Plakats oder eines Leporellos) erstellt wird und eine Veröffentlichung der Ergebnisse auf einer Schulveranstaltung (z. B. „Tag der offenen Tür“ oder „Kulturcafé“) erfolgt.

Nach der Einführungsstunde mit der Wortschatzerweiterung zum Thema Stadt folgt die hier beschriebene Unterrichtsstunde zum Thema « Demander le chemin en ville ». Weitere Stunden könnten den Transportmitteln, dem Einkaufen, dem Wetter oder französischen Städten gewidmet werden. In den abschließenden Stunden erfolgen die Präsentationen und ihre Auswertungen.

Ziel der Unterrichtsstunde ist, dass die SuS sicher und korrekt Wege erfragen und beschreiben können. Die Planung erfolgt unter Berücksichtigung des Diversitätsmerkmals Autismus-Spektrum-Störung (ASS), da in der fiktiven Klasse diese Diversität (diagnostiziert) vorhanden ist.

Diversitätsmerkmal ASS

Unter dem Begriff der Autismus-Spektrum-Störung werden seit 2013 laut DSM-5 (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) alle Formen autistischer Störungen, z. B. auch der frühkindliche Autismus oder das Asperger-Syndrom, zusammengefasst. Bei der Verwendung des synonymen Begriffs Autismus ist zu beachten, dass es sich zwar in jedem Fall um eine tiefgreifende Entwicklungsstörung, eine früh beginnende, Alltagsfunktionen beeinträchtigende, überdauernde, d.h. nicht heilbare Störung handelt, aber z. B. der frühkindliche Autismus durch niedrige Intelligenz und Sprachentwicklungsstörungen geprägt ist, wogegen das Asperger-Syndrom oft überdurchschnittlich hohe Intelligenz mit Hochbegabung in bestimmten Bereichen, eine frühzeitige Sprachentwicklung sowie eine gehobene Ausdrucksweise mit sich bringt. Im Erscheinungsbild des Autismus besteht eine sehr große Heterogenität, auch für das Asperger-Syndrom gibt es eine sehr große Vielfalt in der Ausprägung der Symptomatik (vgl. Kamp-Böcker / Bölte 2021: 8-11).

Das folgende Zitat verdeutlicht die Bedeutung der Berücksichtigung dieses Diversitätsmerkmals im Unterricht: „Besonders belastend sind unzweifelhaft Situationen, während des Unterrichts […] gehänselt, verspottet, ausgelacht und stigmatisiert zu werden. […] Fehlen präventive Maßnahmen […] oder misslingen Interventionen, wächst die Gefahr, dass, wie H. Asperger beschreibt, eine kritische Situation eskaliert und sich verfestigt. Viele [Autisten] erleben ihre Jugend als eine ausgesprochen schwierige Zeit, mitunter als ‚die unglücklichste Zeit‘ des Lebens. Niedrige Selbstwertgefühle führen nicht selten zu schweren Depressionen, Suizidversuchen oder gar Suiziden.“ (Theunissen 2021: 74)

Trotz des sehr heterogenen Störungsbildes gibt es zwei Hauptmerkmale des Autismus:
1. Defizite in der sozialen Interaktion und Kommunikation
2. eingeschränkte, repetitive Verhaltensmuster und Interessen.

Für den Französischunterricht besonders relevant sind Defizite in der sozialen Interaktion, z. B. reduziertes nonverbales Verhalten (z. B. Vermeidung von Blickkontakt, reduzierte Mimik) und fehlendes Empathieempfinden. Zu beachten sind auch Störungen der sozialen Kommunikation, z. B. fehlendes Ironieverständnis und Aufforderungen wörtlich zu nehmen. Folgendes Beispiel zeigt, wie dadurch autistisches Verhalten ungewollt zu herausforderndem Verhalten werden kann. „Martin, ein autistischer Junge, rennt durch den Klassenraum. Seine Lehrerin ermahnt ihn mit den Worten: ‚Setz Dich bitte sofort hin.‘ Daraufhin setzt sich Martin unmittelbar auf den Boden, wo er sich gerade befindet.“ (Theunissen 2021: 66) Das autistische Verhalten des Jungen führt aus der Sicht der Lehrperson und der anderen SuS zu einem Problemverhalten. Hätte die Lehrerin Martin gebeten, sich auf seinen Stuhl zu setzen, wäre das gewünschte Verhalten erfolgt und sie hätte ihn vor Belustigung und Ausgrenzung geschützt. Bei der Unterrichtsvorbereitung ist z. B. zu beachten, dass für autistische SuS Hör- und Prosatexte sowie Filmsequenzen, die Empathieempfinden voraussetzen, besonders problematisch sind (vgl. Errens 2017: 8).

Bei der Planung des Französischunterrichtes sollte weiterhin berücksichtigt werden, dass autistische SuS wegen ihrer eingeschränkten, repetitiven Verhaltensmuster ein ängstlich-zwanghaftes Bedürfnis nach Routine, Ordnung und Struktur haben. Typisch sind auch eine Hyper- bzw. Hypo-Reaktivität auf sensorische Reize, z. B. Überempfindlichkeit auf Geräusche bzw. verzögerte oder fehlende Reaktion auf Namensaufruf. Auch unübliches Lern- und Problemlösungsverhalten sowie repetitive motorische Bewegungen, wie Oberkörperschaukeln zur inneren Beruhigung, sind charakteristisch. Außerdem können autistische SuS komorbide Störungen, wie z. B. Angst-, Zwangsstörungen, ADHS u.a., haben (vgl. Kamp-Becker / Bölte 2021: 22-24).

Autistische SuS reagieren auf eine Überforderung i.d.R. durch Rückzug aus der Situation, z. B. durch „Abschalten“ (geistiger Rückzug) oder Weglaufen (körperlicher Rückzug). Bei manchen autistischen SuS kann eine mangelnde Impulskontrolle zu (auto-)aggressivem Verhalten führen (vgl. Theunissen 2021: 186). Fehlt Aufgaben aus Sicht von autistischen SuS die Sinnhaftigkeit (z. B. bei Rollen, die sie nicht einnehmen möchten, Annahmen, die nicht auf sie zutreffen (z. B. Haustier, Freunde) oder Fantasieaufgaben) kann Arbeitsverweigerung die Folge sein.

Beispiele für grundlegende Maßnahmen für die Inklusion und Förderung autistischer SuS, die allen Lernenden zugutekommen können, sind nach Errens (vgl. 2017: 6-13) ritualisierte Abläufe, Strukturierung und Untergliederung von Aufgaben und Arbeitsblättern, die Transparenz von Zielen, die Vermeidung von spontanen Interaktionen, die Vermeidung von Fantasiespielen, die Visualisierung von Arbeitsaufträgen, Aufgaben mit Lebensweltbezug, um die Sinnhaftigkeit aus Sicht der Betroffenen sicherzustellen sowie ein geringer Geräuschpegel im Klassenraum, auch beim kooperativen Lernen. Weitere mögliche Maßnahmen sind das Einbringen eventueller Hochbegabungen als Bereicherung des Unterrichts an geeigneten Stellen (z. B. bei künstlerischer Hochbegabung gemalte Bilder vorstellen lassen) und ggf. die Vereinbarung von Rückzugsmöglichkeiten (z. B. Schulbibliothek).

Abschließend sei darauf hingewiesen, dass das Land Sachsen-Anhalt Lehrkräfte beauftragt hat, die speziell zur Beratung von Eltern und Lehrkräften zur Verfügung stehen. Die Festlegung des Nachteilsausgleiches erfolgt nach gesicherter Diagnose unter Einbeziehung der speziellen Beratungslehrkraft im Einzelfall.

Unterrichtsstunde

Ritualisiert beginnt der Unterricht mit der gegenseitigen höflichen Begrüßung « Bonjour, la classe! » « Bonjour, madame / monsieur! » im Stehen, gefolgt von der Anweisung « Asseyez-vous, s’il vous plaît! », da es sonst passieren könnte, dass autistische SuS stehenbleiben, obwohl sich alle anderen gewohnheitsmäßig setzen. Die Lehrperson gibt danach auf Französisch den jeweiligen Wochentag und das Datum an. Es wird angeregt, bei geeignetem Klassenklima ab einem gewissen Zeitpunkt das Ritual in die Verantwortung der SuS (z. B. in der Reihenfolge wie im Klassenbuch) zu geben. Die Lehrperson gibt anschließend das Ziel und den Ablauf der Unterrichtsstunde bekannt.

Für die gesamte Unterrichtsstunde wird zur Visualisierung der jeweiligen Arbeitsanweisungen eine PPP empfohlen, damit die Aufgabenstellungen in jeder Phase zu lesen sind (siehe Verlaufsplan).

Ebenfalls als Ritual (mit jeweils verändertem Inhalt) folgt anschließend eine Frage-Antwort-Runde, bei der alle SuS nacheinander aktiviert werden und auf die sich alle durch Bekanntgabe der Anforderungen in der vorhergehenden Stunde vorbereiten können, hier, wo die SuS wohnen: « Moi, j’habite rue… numéro…. Et toi, tu habites où? ». Als Zeichen des Sprechaktes wird dabei ein kleiner Ball weitergereicht. Zur schriftlichen Erfolgskontrolle des Lernstoffs der vorigen Stunde wird danach eine TÜ mit 10 Vokabeln aus der HA geschrieben.

Die Unterrichtsstunde folgt der klaren Struktur: Erarbeitung (Vokabeln, Grammatik), Sicherung. Es werden keine spontanen Leistungen abverlangt, sondern sämtliche Interaktionen vorbereitet. Zuerst wird der Wortschatz mithilfe des übersichtlichen und klar strukturierten Arbeitsblattes 1 erweitert. Auf das Üben der korrekten Aussprache wird großen Wert gelegt. Chorisches Sprechen ermöglicht allen SuS das gleichzeitige Üben des korrekten Nachsprechens des lautlichen Vorbildes, es fördert die automatisierte Aussprache und hat einen hohen Erinnerungseffekt. Im Schutz der Gruppe fühlen sich viele SuS sicherer beim Sprechen. Für autistische SuS ist chorisches Sprechen i.d.R. kein Problem, da sie nicht direkt mit anderen SuS in Kontakt treten müssen. Ein erstes selbstständiges Lernen, Schreiben, Kontrollieren und Korrigieren der Vokabeln ermöglicht die Methode „Vokabeltrainer“, bei der das Arbeitsblatt nach dem Lernen geknickt wird. Das nachhaltige Lernen der Vokabeln ist HA.

Die Erarbeitung der neuen Grammatik, das unregelmäßige Verb « aller » mit dem besonderen Imperativ « Va! », erfolgt genauso. Prinzipiell ist auf Arbeitsblättern von den SuS oben rechts das Datum in französischer Schreibweise zu schreiben, wodurch die Ordnung im Hefter unterstützt wird.

Um Redemuster kennenzulernen, werden nach der Besprechung von Besonderheiten in der Aussprache (z. B. tout droit, à droite, seconde) und dem chorischen Sprechen drei kleine Dialoge in Partnerarbeit nach der Methode « lire-regarder-parler » erarbeitet, wobei sich (wie in einer realen Situation) die Partner ins Gesicht schauen. Diese Methode ist effektiv, aber für autistische SuS wegen des geforderten Blickkontaktes problematisch. Deshalb wird von dem / der Betroffenen der « regarder »-Teil nicht verlangt und die Partnerrolle (nach vorheriger bzw. grundsätzlicher Absprache) von der Lehrperson übernommen, das Sprechen des Satzes aber dennoch auswendig gefordert.

Danach können die SuS zwischen Einzel- oder Partnerarbeit wählen, um Wegbeschreibungen selbst zu erarbeiten. Das Arbeitsblatt für die Einzelarbeit ist übersichtlicher, stärker strukturiert, hat eine Aufgabenuntergliederung, die Arbeitsanweisungen sind unterstrichen und um eine eventuelle Blockade wegen fehlender Sinnhaftigkeit einer geforderten Rolle zu vermeiden, wird eine unpersönliche Alltagssituation geschildert. Um in der Klasse den Geräuschpegel niedrig zu halten, ist auch die Partnerarbeit schriftlich zu erledigen.

Nach der Vorstellung der Ergebnisse wird den SuS das französische Alphabet mit einem Video nähergebracht (https://www.youtube.com/watch?v=5xuZxGirWQI). Der Song animiert zum Mitsingen. Die witzige Art des Songs durch die Augen und die schlumpfähnlichen Stimmen einerseits und der ernsthafte Inhalt zur korrekten Aussprache sowie die gute Strukturierung andererseits lassen den Song für eine heterogene Gruppe geeignet erscheinen. Mit Verweis auf den Lebensweltbezug des Buchstabierens (z. B. Eingabe von Straßennamen ins Handy oder Navi) erfolgt das Üben des Buchstabierens anschließend erst ausgehend von der Lehrperson, dann von den SuS selbst, indem sie die Initiative ergreifen und selbst Beispiele ansagen, die ihre Mit-SuS aufschreiben.

Ritualisiert endet der Unterricht mit der Zusammenfassung der Stunde, der Visualisierung der HA und der höflichen Verabschiedung « Au revoir, la classe! » « Au revoir, madame / monsieur! ».

Material

Literatur

Errens, Christop (2017): Inklusion am Beispiel Autismus-Spektrum-Störung: eine Herausforderung für den modernen Französischunterricht?, in: Französisch heute 48, S. 5-13.

Kamp-Becker, Inge / Bölte, Sven (2021): Autismus. 3. Aufl., München: Reinhardt.

Ministerium für Bildung des Landes Sachsen-Anhalt (2022): Fachlehrplan Gymnasium Französisch, Magdeburg.

Theunissen, Georg (2021): Autismus und herausforderndes Verhalten. Praxisleitfaden Positive Verhaltensunterstützung, 4. Aufl., Freiburg im Breisgau: Lambertus.

von Livia Brase

weitere Beispiele